te Unterschied. Die Würde der Epopee fällt auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel- ne, insonderheit jede Nebenperson nur in dem Maaße, in welchem sie zum Ganzen beiträgt: so muß gravitas epici carminis berechnet werden.
Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro- prietät, die Eigenheit des epischen Werks im Gan- zen nichts weniger, als das Lächerliche, zum Haupt- tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei- nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehören, und ein Thersites, ein Dämon mit zur Harmonie des Werks einstimmen? Nichts ist hier so sonder- bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be- trachten, wie sie mitten im Verfolge sich ausnimmt, oder, besser zu sagen, sich fortdränget, sich aus an- dern entwickelt, und andere vorbringet, so, daß sie nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan- zen bleibet. Ein Thersites an sich sey, was er wol- le, was ist er zum Ganzen der Jliade? Was ist er in seinem Verfolge? Mischen sich in ihm Homers Successionen der Auftritte, daß ihre Farben schnei- dend werden, daß der poetische Maler sie nicht ver- schmolzen, daß sie in ihrer Succession nicht Ton hal- ten, daß das Auge des Lesers keine Ruhestatt finde, nicht weiter gehen wolle? Wer kann das sagen?
Drittens endlich: die sicherste Kritik eines Ge- dichts ist die Reihe meiner Empfindungen; und in Absicht auf diese ist das Lächerliche sehr verschieden.
Ent-
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Zweites Waͤldchen.
te Unterſchied. Die Wuͤrde der Epopee faͤllt auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel- ne, inſonderheit jede Nebenperſon nur in dem Maaße, in welchem ſie zum Ganzen beitraͤgt: ſo muß gravitas epici carminis berechnet werden.
Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro- prietaͤt, die Eigenheit des epiſchen Werks im Gan- zen nichts weniger, als das Laͤcherliche, zum Haupt- tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei- nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehoͤren, und ein Therſites, ein Daͤmon mit zur Harmonie des Werks einſtimmen? Nichts iſt hier ſo ſonder- bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be- trachten, wie ſie mitten im Verfolge ſich ausnimmt, oder, beſſer zu ſagen, ſich fortdraͤnget, ſich aus an- dern entwickelt, und andere vorbringet, ſo, daß ſie nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan- zen bleibet. Ein Therſites an ſich ſey, was er wol- le, was iſt er zum Ganzen der Jliade? Was iſt er in ſeinem Verfolge? Miſchen ſich in ihm Homers Succeſſionen der Auftritte, daß ihre Farben ſchnei- dend werden, daß der poetiſche Maler ſie nicht ver- ſchmolzen, daß ſie in ihrer Succeſſion nicht Ton hal- ten, daß das Auge des Leſers keine Ruheſtatt finde, nicht weiter gehen wolle? Wer kann das ſagen?
Drittens endlich: die ſicherſte Kritik eines Ge- dichts iſt die Reihe meiner Empfindungen; und in Abſicht auf dieſe iſt das Laͤcherliche ſehr verſchieden.
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Zweites Waͤldchen.
te Unterſchied. Die Wuͤrde der Epopee faͤllt
auf das Ganze des Gedichts, auf jede einzel-
ne, inſonderheit jede Nebenperſon nur in dem
Maaße, in welchem ſie zum Ganzen beitraͤgt:
ſo muß gravitas epici carminis berechnet werden.
Nun hat, und wer weiß das nicht? die Pro-
prietaͤt, die Eigenheit des epiſchen Werks im Gan-
zen nichts weniger, als das Laͤcherliche, zum Haupt-
tone; aber kann nicht ein Belachenswerthes in ei-
nem Theile zur Congruenz des Ganzen gehoͤren,
und ein Therſites, ein Daͤmon mit zur Harmonie
des Werks einſtimmen? Nichts iſt hier ſo ſonder-
bar, als eine Scene heraus zu heben; ohne zu be-
trachten, wie ſie mitten im Verfolge ſich ausnimmt,
oder, beſſer zu ſagen, ſich fortdraͤnget, ſich aus an-
dern entwickelt, und andere vorbringet, ſo, daß ſie
nichts, als eine Tonreihe zur Symphonie des Gan-
zen bleibet. Ein Therſites an ſich ſey, was er wol-
le, was iſt er zum Ganzen der Jliade? Was iſt er
in ſeinem Verfolge? Miſchen ſich in ihm Homers
Succeſſionen der Auftritte, daß ihre Farben ſchnei-
dend werden, daß der poetiſche Maler ſie nicht ver-
ſchmolzen, daß ſie in ihrer Succeſſion nicht Ton hal-
ten, daß das Auge des Leſers keine Ruheſtatt finde,
nicht weiter gehen wolle? Wer kann das ſagen?
Drittens endlich: die ſicherſte Kritik eines Ge-
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/57>, abgerufen am 16.02.2025.
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