Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
"bedeuten sie anders. Um dies überall zu verste-
"hen; um es sogleich zu erreichen, nicht, was ein
"Wort bedeuten könne, sondern bedeute, kann nicht
"anders, als durch vielfaches Fortlesen vieler Bü-
"cher, geschehen u. s. w."

Geßner redet noch weiter vom Schulgebrauche
fort: ich will nur hinzusetzen, daß, wenn kaum der
Wortverstand, kaum der gewöhnliche historische
Sinn bei solchen Commentarien und Erläuterungen
erreicht werde: ei der erste feurige schnelle Anblick,
der da bildet? ei das poetische Auge, das mit ei-
nem Adlersblicke aufs Ganze, und vom Ganzen auf
Theile hinläuft? ei der edle unnennbare Sinn, der
allen fremden Plunder wegwirft, und hinzueilet,
das nackte ganze Bild vom Geiste eines Autors zu
umarmen, zu lieben, anzubeten? Ei der? --

Er höre den süßlallenden Autor a): "wenn
"man einem jungen Menschen, dem die Natur eine
"feine Seele und ein empfindliches Herz gegeben,
"diese Steine zeigt, erklärt, und sie mit den home-
"rischen Versen vergleicht, welche Früchte kann
"man sich nicht von einem solchen Unterrichte ver-
"sprechen! Die Erzälung geht selbst in Handlung
"über: wir glauben nicht mehr die Geschichte zu
"lesen, wir sehen sie selbst mit an: wir wohnen den
"Auftritten bei: in der Einbildungskraft versetzen

"wir
a) Ueber die geschn. Steine.

Zweites Waͤldchen.
„bedeuten ſie anders. Um dies uͤberall zu verſte-
„hen; um es ſogleich zu erreichen, nicht, was ein
„Wort bedeuten koͤnne, ſondern bedeute, kann nicht
„anders, als durch vielfaches Fortleſen vieler Buͤ-
„cher, geſchehen u. ſ. w.„

Geßner redet noch weiter vom Schulgebrauche
fort: ich will nur hinzuſetzen, daß, wenn kaum der
Wortverſtand, kaum der gewoͤhnliche hiſtoriſche
Sinn bei ſolchen Commentarien und Erlaͤuterungen
erreicht werde: ei der erſte feurige ſchnelle Anblick,
der da bildet? ei das poetiſche Auge, das mit ei-
nem Adlersblicke aufs Ganze, und vom Ganzen auf
Theile hinlaͤuft? ei der edle unnennbare Sinn, der
allen fremden Plunder wegwirft, und hinzueilet,
das nackte ganze Bild vom Geiſte eines Autors zu
umarmen, zu lieben, anzubeten? Ei der? —

Er hoͤre den ſuͤßlallenden Autor a): „wenn
„man einem jungen Menſchen, dem die Natur eine
„feine Seele und ein empfindliches Herz gegeben,
„dieſe Steine zeigt, erklaͤrt, und ſie mit den home-
„riſchen Verſen vergleicht, welche Fruͤchte kann
„man ſich nicht von einem ſolchen Unterrichte ver-
„ſprechen! Die Erzaͤlung geht ſelbſt in Handlung
„uͤber: wir glauben nicht mehr die Geſchichte zu
„leſen, wir ſehen ſie ſelbſt mit an: wir wohnen den
„Auftritten bei: in der Einbildungskraft verſetzen

„wir
a) Ueber die geſchn. Steine.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0259" n="253"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
&#x201E;bedeuten &#x017F;ie anders. Um dies u&#x0364;berall zu ver&#x017F;te-<lb/>
&#x201E;hen; um es &#x017F;ogleich zu erreichen, nicht, was ein<lb/>
&#x201E;Wort bedeuten ko&#x0364;nne, &#x017F;ondern bedeute, kann nicht<lb/>
&#x201E;anders, als durch vielfaches Fortle&#x017F;en vieler Bu&#x0364;-<lb/>
&#x201E;cher, ge&#x017F;chehen u. &#x017F;. w.&#x201E;</p><lb/>
          <p>Geßner redet noch weiter vom Schulgebrauche<lb/>
fort: ich will nur hinzu&#x017F;etzen, daß, wenn kaum der<lb/>
Wortver&#x017F;tand, kaum der gewo&#x0364;hnliche hi&#x017F;tori&#x017F;che<lb/>
Sinn bei &#x017F;olchen Commentarien und Erla&#x0364;uterungen<lb/>
erreicht werde: ei der er&#x017F;te feurige &#x017F;chnelle Anblick,<lb/>
der da bildet? ei das poeti&#x017F;che Auge, das mit ei-<lb/>
nem Adlersblicke aufs Ganze, und vom Ganzen auf<lb/>
Theile hinla&#x0364;uft? ei der edle unnennbare Sinn, der<lb/>
allen fremden Plunder wegwirft, und hinzueilet,<lb/>
das nackte ganze Bild vom Gei&#x017F;te eines Autors zu<lb/>
umarmen, zu lieben, anzubeten? Ei der? &#x2014;</p><lb/>
          <p>Er ho&#x0364;re den &#x017F;u&#x0364;ßlallenden Autor <note place="foot" n="a)">Ueber die ge&#x017F;chn. Steine.</note>: &#x201E;wenn<lb/>
&#x201E;man einem jungen Men&#x017F;chen, dem die Natur eine<lb/>
&#x201E;feine Seele und ein empfindliches Herz gegeben,<lb/>
&#x201E;die&#x017F;e Steine zeigt, erkla&#x0364;rt, und &#x017F;ie mit den home-<lb/>
&#x201E;ri&#x017F;chen Ver&#x017F;en vergleicht, welche Fru&#x0364;chte kann<lb/>
&#x201E;man &#x017F;ich nicht von einem &#x017F;olchen Unterrichte ver-<lb/>
&#x201E;&#x017F;prechen! Die Erza&#x0364;lung geht &#x017F;elb&#x017F;t in Handlung<lb/>
&#x201E;u&#x0364;ber: wir glauben nicht mehr die Ge&#x017F;chichte zu<lb/>
&#x201E;le&#x017F;en, wir &#x017F;ehen &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t mit an: wir wohnen den<lb/>
&#x201E;Auftritten bei: in der Einbildungskraft ver&#x017F;etzen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;wir</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0259] Zweites Waͤldchen. „bedeuten ſie anders. Um dies uͤberall zu verſte- „hen; um es ſogleich zu erreichen, nicht, was ein „Wort bedeuten koͤnne, ſondern bedeute, kann nicht „anders, als durch vielfaches Fortleſen vieler Buͤ- „cher, geſchehen u. ſ. w.„ Geßner redet noch weiter vom Schulgebrauche fort: ich will nur hinzuſetzen, daß, wenn kaum der Wortverſtand, kaum der gewoͤhnliche hiſtoriſche Sinn bei ſolchen Commentarien und Erlaͤuterungen erreicht werde: ei der erſte feurige ſchnelle Anblick, der da bildet? ei das poetiſche Auge, das mit ei- nem Adlersblicke aufs Ganze, und vom Ganzen auf Theile hinlaͤuft? ei der edle unnennbare Sinn, der allen fremden Plunder wegwirft, und hinzueilet, das nackte ganze Bild vom Geiſte eines Autors zu umarmen, zu lieben, anzubeten? Ei der? — Er hoͤre den ſuͤßlallenden Autor a): „wenn „man einem jungen Menſchen, dem die Natur eine „feine Seele und ein empfindliches Herz gegeben, „dieſe Steine zeigt, erklaͤrt, und ſie mit den home- „riſchen Verſen vergleicht, welche Fruͤchte kann „man ſich nicht von einem ſolchen Unterrichte ver- „ſprechen! Die Erzaͤlung geht ſelbſt in Handlung „uͤber: wir glauben nicht mehr die Geſchichte zu „leſen, wir ſehen ſie ſelbſt mit an: wir wohnen den „Auftritten bei: in der Einbildungskraft verſetzen „wir a) Ueber die geſchn. Steine.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/259
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/259>, abgerufen am 23.11.2024.