1. Abrupta carminum initia. Wie? wenn es hier Gesetz der horazischen Ode würde a): arripit lyram poeta, nec quaeren[s] verba, quibus ordia- tur carmen, non sollicitns, quam formulam pri- mo loco ponat, quodcunque ii, quibus excitatur, motus verbum suggerunt, eloquitur -- welcher unförmliche Parenthyrsus würde unsere Horaze be- zeichnen. Nur von wenigen horazischen Oden kann man eigentlich diese plötzliche Abgebrochenheit des Anfanges sagen, und bei jeder, wo sie sich findet, hat sie eine Art von Besonderheit in ihrer Ursache. Das so oft mißbrauchte: quo me, Bacche, rapis? ist kein allgemeines Gesetz, es ist ein einzelnes, und darf ich sagen, sonderbares Beispiel. Der Poet dichtet die ganze Ode durch eine förmliche Trunkenheit: voll seines Bacchus in Hölen und Wälder getrie- ben, weiß er selbst nicht, wie ihm geschieht: sein Geist schwebt umher, oder vielmehr wird hinwegge- rissen, nichts Großes, nichts Sterbliches zu singen und -- er singet August. Schöne Lobeseinklei- dung, wie Plato seinen Sokrates vom trunkenen Al- cibiades loben läßt: so kann hier der trunkene Flac- cus dithyrambisiren; es stimmt mit dem ganzen Tone der Ode. Jn Absicht auf diesen ist der An- fang nicht abgebrochen, weil alles in der Ode abge- brochen, hingeworfen, trunken ist: ja, die ganze Ode, kurz und bündig, ist ein abgebrochnes Stück
eines
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Kritiſche Waͤlder.
1. Abrupta carminum initia. Wie? wenn es hier Geſetz der horaziſchen Ode wuͤrde a): arripit lyram poeta, nec quaeren[s] verba, quibus ordia- tur carmen, non ſollicitns, quam formulam pri- mo loco ponat, quodcunque ii, quibus excitatur, motus verbum ſuggerunt, eloquitur — welcher unfoͤrmliche Parenthyrſus wuͤrde unſere Horaze be- zeichnen. Nur von wenigen horaziſchen Oden kann man eigentlich dieſe ploͤtzliche Abgebrochenheit des Anfanges ſagen, und bei jeder, wo ſie ſich findet, hat ſie eine Art von Beſonderheit in ihrer Urſache. Das ſo oft mißbrauchte: quo me, Bacche, rapis? iſt kein allgemeines Geſetz, es iſt ein einzelnes, und darf ich ſagen, ſonderbares Beiſpiel. Der Poet dichtet die ganze Ode durch eine foͤrmliche Trunkenheit: voll ſeines Bacchus in Hoͤlen und Waͤlder getrie- ben, weiß er ſelbſt nicht, wie ihm geſchieht: ſein Geiſt ſchwebt umher, oder vielmehr wird hinwegge- riſſen, nichts Großes, nichts Sterbliches zu ſingen und — er ſinget Auguſt. Schoͤne Lobeseinklei- dung, wie Plato ſeinen Sokrates vom trunkenen Al- cibiades loben laͤßt: ſo kann hier der trunkene Flac- cus dithyrambiſiren; es ſtimmt mit dem ganzen Tone der Ode. Jn Abſicht auf dieſen iſt der An- fang nicht abgebrochen, weil alles in der Ode abge- brochen, hingeworfen, trunken iſt: ja, die ganze Ode, kurz und buͤndig, iſt ein abgebrochnes Stuͤck
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Kritiſche Waͤlder.
1. Abrupta carminum initia. Wie? wenn es
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tur carmen, non ſollicitns, quam formulam pri-
mo loco ponat, quodcunque ii, quibus excitatur,
motus verbum ſuggerunt, eloquitur — welcher
unfoͤrmliche Parenthyrſus wuͤrde unſere Horaze be-
zeichnen. Nur von wenigen horaziſchen Oden kann
man eigentlich dieſe ploͤtzliche Abgebrochenheit des
Anfanges ſagen, und bei jeder, wo ſie ſich findet,
hat ſie eine Art von Beſonderheit in ihrer Urſache.
Das ſo oft mißbrauchte: quo me, Bacche, rapis? iſt
kein allgemeines Geſetz, es iſt ein einzelnes, und darf
ich ſagen, ſonderbares Beiſpiel. Der Poet dichtet
die ganze Ode durch eine foͤrmliche Trunkenheit:
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ben, weiß er ſelbſt nicht, wie ihm geſchieht: ſein
Geiſt ſchwebt umher, oder vielmehr wird hinwegge-
riſſen, nichts Großes, nichts Sterbliches zu ſingen
und — er ſinget Auguſt. Schoͤne Lobeseinklei-
dung, wie Plato ſeinen Sokrates vom trunkenen Al-
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cus dithyrambiſiren; es ſtimmt mit dem ganzen
Tone der Ode. Jn Abſicht auf dieſen iſt der An-
fang nicht abgebrochen, weil alles in der Ode abge-
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/238>, abgerufen am 17.07.2024.
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