Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. Aber erlauben: so glaube ich diese Eindrücke seinesGefühls noch zu schnell, zu vorübergehend, als daß sie Grundsätze, selbstgefühlte Grundsätze des Schö- nen zurücklassen, und einen gewissen und vesten Ge- schmack bilden könnten. Er erhaschte, was ihm auf der ersten Flucht begegnete; allein selten scheint dies Empfundne noch zu der Vestigkeit der See- le gediehen zu seyn, die man nur durch eignes reifes Nachdenken, und durch Selbstprüfung erhält. Ueber einzelne Bilderchen, über die Oberfläche des Geschmacks, so weit Wortkritik, eine flüchtige Em- pfindung oder Gedächtniß hinreicht, mag ihm sein Urtheil gelingen; wo aber die Empfindung in den Verstand gleichsam übergeht, wo es auf ein reifes selbstgebildetes Urtheil über ein Ganzes, kurz! wo es auf Grundsätze ankommt, da kenne ich wenige, die sich im Urtheile so untreu werden könnten, als Er sich selbst. -- -- Doch ich will ohne vor- gefaßte Meinung zu seinem Commentar: wie schwer wirds, in diesem Staube Gold zu suchen. Hor. L. 1. Od. 1. Jch beklage, daß Hr Kl. uns schrift O 2
Zweites Waͤldchen. Aber erlauben: ſo glaube ich dieſe Eindruͤcke ſeinesGefuͤhls noch zu ſchnell, zu voruͤbergehend, als daß ſie Grundſaͤtze, ſelbſtgefuͤhlte Grundſaͤtze des Schoͤ- nen zuruͤcklaſſen, und einen gewiſſen und veſten Ge- ſchmack bilden koͤnnten. Er erhaſchte, was ihm auf der erſten Flucht begegnete; allein ſelten ſcheint dies Empfundne noch zu der Veſtigkeit der See- le gediehen zu ſeyn, die man nur durch eignes reifes Nachdenken, und durch Selbſtpruͤfung erhaͤlt. Ueber einzelne Bilderchen, uͤber die Oberflaͤche des Geſchmacks, ſo weit Wortkritik, eine fluͤchtige Em- pfindung oder Gedaͤchtniß hinreicht, mag ihm ſein Urtheil gelingen; wo aber die Empfindung in den Verſtand gleichſam uͤbergeht, wo es auf ein reifes ſelbſtgebildetes Urtheil uͤber ein Ganzes, kurz! wo es auf Grundſaͤtze ankommt, da kenne ich wenige, die ſich im Urtheile ſo untreu werden koͤnnten, als Er ſich ſelbſt. — — Doch ich will ohne vor- gefaßte Meinung zu ſeinem Commentar: wie ſchwer wirds, in dieſem Staube Gold zu ſuchen. Hor. L. 1. Od. 1. Jch beklage, daß Hr Kl. uns ſchrift O 2
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Zweites Waͤldchen.
Aber erlauben: ſo glaube ich dieſe Eindruͤcke ſeines
Gefuͤhls noch zu ſchnell, zu voruͤbergehend, als daß
ſie Grundſaͤtze, ſelbſtgefuͤhlte Grundſaͤtze des Schoͤ-
nen zuruͤcklaſſen, und einen gewiſſen und veſten Ge-
ſchmack bilden koͤnnten. Er erhaſchte, was ihm
auf der erſten Flucht begegnete; allein ſelten ſcheint
dies Empfundne noch zu der Veſtigkeit der See-
le gediehen zu ſeyn, die man nur durch eignes
reifes Nachdenken, und durch Selbſtpruͤfung erhaͤlt.
Ueber einzelne Bilderchen, uͤber die Oberflaͤche des
Geſchmacks, ſo weit Wortkritik, eine fluͤchtige Em-
pfindung oder Gedaͤchtniß hinreicht, mag ihm ſein
Urtheil gelingen; wo aber die Empfindung in den
Verſtand gleichſam uͤbergeht, wo es auf ein reifes
ſelbſtgebildetes Urtheil uͤber ein Ganzes, kurz! wo
es auf Grundſaͤtze ankommt, da kenne ich wenige,
die ſich im Urtheile ſo untreu werden koͤnnten, als
Er ſich ſelbſt. — — Doch ich will ohne vor-
gefaßte Meinung zu ſeinem Commentar: wie ſchwer
wirds, in dieſem Staube Gold zu ſuchen.
Hor. L. 1. Od. 1. Jch beklage, daß Hr Kl. uns
mit ſeiner gelehrten Erlaͤuterung ganz aus dem To-
ne, der im Ganzen der Ode herrſcht, wegerlaͤutert:
uns mit ſeinen furchtbaren Citationen den ganzen
Sinn des Liedes, die ganze ſchoͤne Stimmung der
Seele, in der Horaz ſang, wegcommentirt — und
wer koͤnnte gefaͤhrlicher commentiren? — Baxter
hat diesmal den Hauptton der Ode mit ſeiner Ueber-
ſchrift
O 2
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