griffe forschen: aber, wie ein Areopagit im Fin- stern urtheilen? Kaum!
Der Verfolg wird Beispiele liefern, wie schie- lend es sey, über den Uebelstand homerischer Göt- ter und Helden, und Menschen nach den Begriffen unsrer Zeit zu urtheilen. -- Jetzt will ich nur fra- gen: ob Homer habe fehlen können, daß er sich nach den Sitten seiner Zeit bequemete? und nach wel- chen er sich denn hätte richten sollen a)?
Homer mußte sich nach den Sitten der Zeit vor ihm bequemen: denn aus dieser schilderte er seine Helden, und was er also in derselben für Be- griffe von Heldengröße, Heldenklugheit und Wohl- stand fand, ward die Basis seines Gedichts. Wenn diese Heldengröße ohne Leibesstärke, ohne Schnellig- keit, ohne Wildigkeit der Leidenschaft, ohne eine ed- le Einfalt in klugen Anschlägen, ohne eine kühne Rauhigkeit nicht bestehen konnte: so wurden auch alle diese Charaktere seinem Gedichte eigen.
Auf solcher Grundlage stand sein Gebäude: Ein Gedicht für seine Zeit. Die Vorstellun- gen der verflossenen Jahrhunderte sollten in der Sprache seines Zeitalters, nach dem Gefühle eines Sängers, der in diesem Zeitalter gebildet war, nach dem Augenmerke einer Welt von Zuhörern, die nach ihrer Zeit dachten, vorgestellet werden: so sang Ho- mer, und anders konnte er nicht singen -- Ein
Bar-
a)Epist. Homer. p. 24.
Zweites Waͤldchen.
griffe forſchen: aber, wie ein Areopagit im Fin- ſtern urtheilen? Kaum!
Der Verfolg wird Beiſpiele liefern, wie ſchie- lend es ſey, uͤber den Uebelſtand homeriſcher Goͤt- ter und Helden, und Menſchen nach den Begriffen unſrer Zeit zu urtheilen. — Jetzt will ich nur fra- gen: ob Homer habe fehlen koͤnnen, daß er ſich nach den Sitten ſeiner Zeit bequemete? und nach wel- chen er ſich denn haͤtte richten ſollen a)?
Homer mußte ſich nach den Sitten der Zeit vor ihm bequemen: denn aus dieſer ſchilderte er ſeine Helden, und was er alſo in derſelben fuͤr Be- griffe von Heldengroͤße, Heldenklugheit und Wohl- ſtand fand, ward die Baſis ſeines Gedichts. Wenn dieſe Heldengroͤße ohne Leibesſtaͤrke, ohne Schnellig- keit, ohne Wildigkeit der Leidenſchaft, ohne eine ed- le Einfalt in klugen Anſchlaͤgen, ohne eine kuͤhne Rauhigkeit nicht beſtehen konnte: ſo wurden auch alle dieſe Charaktere ſeinem Gedichte eigen.
Auf ſolcher Grundlage ſtand ſein Gebaͤude: Ein Gedicht fuͤr ſeine Zeit. Die Vorſtellun- gen der verfloſſenen Jahrhunderte ſollten in der Sprache ſeines Zeitalters, nach dem Gefuͤhle eines Saͤngers, der in dieſem Zeitalter gebildet war, nach dem Augenmerke einer Welt von Zuhoͤrern, die nach ihrer Zeit dachten, vorgeſtellet werden: ſo ſang Ho- mer, und anders konnte er nicht ſingen — Ein
Bar-
a)Epiſt. Homer. p. 24.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0021"n="15"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Zweites Waͤldchen.</hi></fw><lb/>
griffe forſchen: aber, wie ein Areopagit im Fin-<lb/>ſtern urtheilen? Kaum!</p><lb/><p>Der Verfolg wird Beiſpiele liefern, wie ſchie-<lb/>
lend es ſey, uͤber den Uebelſtand homeriſcher Goͤt-<lb/>
ter und Helden, und Menſchen nach den Begriffen<lb/>
unſrer Zeit zu urtheilen. — Jetzt will ich nur fra-<lb/>
gen: ob Homer habe fehlen koͤnnen, daß er ſich nach<lb/>
den Sitten ſeiner Zeit bequemete? und nach wel-<lb/>
chen er ſich denn haͤtte richten ſollen <noteplace="foot"n="a)"><hirendition="#aq">Epiſt. Homer. p.</hi> 24.</note>?</p><lb/><p>Homer mußte ſich nach den Sitten der Zeit<lb/><hirendition="#fr">vor ihm</hi> bequemen: denn aus dieſer ſchilderte er<lb/>ſeine Helden, und was er alſo in derſelben fuͤr Be-<lb/>
griffe von Heldengroͤße, Heldenklugheit und Wohl-<lb/>ſtand fand, ward die Baſis ſeines Gedichts. Wenn<lb/>
dieſe Heldengroͤße ohne Leibesſtaͤrke, ohne Schnellig-<lb/>
keit, ohne Wildigkeit der Leidenſchaft, ohne eine ed-<lb/>
le Einfalt in klugen Anſchlaͤgen, ohne eine kuͤhne<lb/>
Rauhigkeit nicht beſtehen konnte: ſo wurden auch<lb/>
alle dieſe Charaktere ſeinem Gedichte eigen.</p><lb/><p>Auf ſolcher Grundlage ſtand ſein Gebaͤude:<lb/><hirendition="#fr">Ein Gedicht fuͤr ſeine Zeit.</hi> Die Vorſtellun-<lb/>
gen der verfloſſenen Jahrhunderte ſollten in der<lb/>
Sprache ſeines Zeitalters, nach dem Gefuͤhle eines<lb/>
Saͤngers, der in dieſem Zeitalter gebildet war, nach<lb/>
dem Augenmerke einer Welt von Zuhoͤrern, die nach<lb/>
ihrer Zeit dachten, vorgeſtellet werden: ſo ſang Ho-<lb/>
mer, und anders konnte er nicht ſingen —<hirendition="#fr">Ein</hi><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#fr">Bar-</hi></fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[15/0021]
Zweites Waͤldchen.
griffe forſchen: aber, wie ein Areopagit im Fin-
ſtern urtheilen? Kaum!
Der Verfolg wird Beiſpiele liefern, wie ſchie-
lend es ſey, uͤber den Uebelſtand homeriſcher Goͤt-
ter und Helden, und Menſchen nach den Begriffen
unſrer Zeit zu urtheilen. — Jetzt will ich nur fra-
gen: ob Homer habe fehlen koͤnnen, daß er ſich nach
den Sitten ſeiner Zeit bequemete? und nach wel-
chen er ſich denn haͤtte richten ſollen a)?
Homer mußte ſich nach den Sitten der Zeit
vor ihm bequemen: denn aus dieſer ſchilderte er
ſeine Helden, und was er alſo in derſelben fuͤr Be-
griffe von Heldengroͤße, Heldenklugheit und Wohl-
ſtand fand, ward die Baſis ſeines Gedichts. Wenn
dieſe Heldengroͤße ohne Leibesſtaͤrke, ohne Schnellig-
keit, ohne Wildigkeit der Leidenſchaft, ohne eine ed-
le Einfalt in klugen Anſchlaͤgen, ohne eine kuͤhne
Rauhigkeit nicht beſtehen konnte: ſo wurden auch
alle dieſe Charaktere ſeinem Gedichte eigen.
Auf ſolcher Grundlage ſtand ſein Gebaͤude:
Ein Gedicht fuͤr ſeine Zeit. Die Vorſtellun-
gen der verfloſſenen Jahrhunderte ſollten in der
Sprache ſeines Zeitalters, nach dem Gefuͤhle eines
Saͤngers, der in dieſem Zeitalter gebildet war, nach
dem Augenmerke einer Welt von Zuhoͤrern, die nach
ihrer Zeit dachten, vorgeſtellet werden: ſo ſang Ho-
mer, und anders konnte er nicht ſingen — Ein
Bar-
a) Epiſt. Homer. p. 24.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/21>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.