Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Wäldchen.
griffe forschen: aber, wie ein Areopagit im Fin-
stern urtheilen? Kaum!

Der Verfolg wird Beispiele liefern, wie schie-
lend es sey, über den Uebelstand homerischer Göt-
ter und Helden, und Menschen nach den Begriffen
unsrer Zeit zu urtheilen. -- Jetzt will ich nur fra-
gen: ob Homer habe fehlen können, daß er sich nach
den Sitten seiner Zeit bequemete? und nach wel-
chen er sich denn hätte richten sollen a)?

Homer mußte sich nach den Sitten der Zeit
vor ihm bequemen: denn aus dieser schilderte er
seine Helden, und was er also in derselben für Be-
griffe von Heldengröße, Heldenklugheit und Wohl-
stand fand, ward die Basis seines Gedichts. Wenn
diese Heldengröße ohne Leibesstärke, ohne Schnellig-
keit, ohne Wildigkeit der Leidenschaft, ohne eine ed-
le Einfalt in klugen Anschlägen, ohne eine kühne
Rauhigkeit nicht bestehen konnte: so wurden auch
alle diese Charaktere seinem Gedichte eigen.

Auf solcher Grundlage stand sein Gebäude:
Ein Gedicht für seine Zeit. Die Vorstellun-
gen der verflossenen Jahrhunderte sollten in der
Sprache seines Zeitalters, nach dem Gefühle eines
Sängers, der in diesem Zeitalter gebildet war, nach
dem Augenmerke einer Welt von Zuhörern, die nach
ihrer Zeit dachten, vorgestellet werden: so sang Ho-
mer, und anders konnte er nicht singen -- Ein

Bar-
a) Epist. Homer. p. 24.

Zweites Waͤldchen.
griffe forſchen: aber, wie ein Areopagit im Fin-
ſtern urtheilen? Kaum!

Der Verfolg wird Beiſpiele liefern, wie ſchie-
lend es ſey, uͤber den Uebelſtand homeriſcher Goͤt-
ter und Helden, und Menſchen nach den Begriffen
unſrer Zeit zu urtheilen. — Jetzt will ich nur fra-
gen: ob Homer habe fehlen koͤnnen, daß er ſich nach
den Sitten ſeiner Zeit bequemete? und nach wel-
chen er ſich denn haͤtte richten ſollen a)?

Homer mußte ſich nach den Sitten der Zeit
vor ihm bequemen: denn aus dieſer ſchilderte er
ſeine Helden, und was er alſo in derſelben fuͤr Be-
griffe von Heldengroͤße, Heldenklugheit und Wohl-
ſtand fand, ward die Baſis ſeines Gedichts. Wenn
dieſe Heldengroͤße ohne Leibesſtaͤrke, ohne Schnellig-
keit, ohne Wildigkeit der Leidenſchaft, ohne eine ed-
le Einfalt in klugen Anſchlaͤgen, ohne eine kuͤhne
Rauhigkeit nicht beſtehen konnte: ſo wurden auch
alle dieſe Charaktere ſeinem Gedichte eigen.

Auf ſolcher Grundlage ſtand ſein Gebaͤude:
Ein Gedicht fuͤr ſeine Zeit. Die Vorſtellun-
gen der verfloſſenen Jahrhunderte ſollten in der
Sprache ſeines Zeitalters, nach dem Gefuͤhle eines
Saͤngers, der in dieſem Zeitalter gebildet war, nach
dem Augenmerke einer Welt von Zuhoͤrern, die nach
ihrer Zeit dachten, vorgeſtellet werden: ſo ſang Ho-
mer, und anders konnte er nicht ſingen — Ein

Bar-
a) Epiſt. Homer. p. 24.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0021" n="15"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
griffe for&#x017F;chen: aber, wie ein Areopagit im Fin-<lb/>
&#x017F;tern urtheilen? Kaum!</p><lb/>
          <p>Der Verfolg wird Bei&#x017F;piele liefern, wie &#x017F;chie-<lb/>
lend es &#x017F;ey, u&#x0364;ber den Uebel&#x017F;tand homeri&#x017F;cher Go&#x0364;t-<lb/>
ter und Helden, und Men&#x017F;chen nach den Begriffen<lb/>
un&#x017F;rer Zeit zu urtheilen. &#x2014; Jetzt will ich nur fra-<lb/>
gen: ob Homer habe fehlen ko&#x0364;nnen, daß er &#x017F;ich nach<lb/>
den Sitten &#x017F;einer Zeit bequemete? und nach wel-<lb/>
chen er &#x017F;ich denn ha&#x0364;tte richten &#x017F;ollen <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">Epi&#x017F;t. Homer. p.</hi> 24.</note>?</p><lb/>
          <p>Homer mußte &#x017F;ich nach den Sitten der Zeit<lb/><hi rendition="#fr">vor ihm</hi> bequemen: denn aus die&#x017F;er &#x017F;childerte er<lb/>
&#x017F;eine Helden, und was er al&#x017F;o in der&#x017F;elben fu&#x0364;r Be-<lb/>
griffe von Heldengro&#x0364;ße, Heldenklugheit und Wohl-<lb/>
&#x017F;tand fand, ward die Ba&#x017F;is &#x017F;eines Gedichts. Wenn<lb/>
die&#x017F;e Heldengro&#x0364;ße ohne Leibes&#x017F;ta&#x0364;rke, ohne Schnellig-<lb/>
keit, ohne Wildigkeit der Leiden&#x017F;chaft, ohne eine ed-<lb/>
le Einfalt in klugen An&#x017F;chla&#x0364;gen, ohne eine ku&#x0364;hne<lb/>
Rauhigkeit nicht be&#x017F;tehen konnte: &#x017F;o wurden auch<lb/>
alle die&#x017F;e Charaktere &#x017F;einem Gedichte eigen.</p><lb/>
          <p>Auf &#x017F;olcher Grundlage &#x017F;tand &#x017F;ein Geba&#x0364;ude:<lb/><hi rendition="#fr">Ein Gedicht fu&#x0364;r &#x017F;eine Zeit.</hi> Die Vor&#x017F;tellun-<lb/>
gen der verflo&#x017F;&#x017F;enen Jahrhunderte &#x017F;ollten in der<lb/>
Sprache &#x017F;eines Zeitalters, nach dem Gefu&#x0364;hle eines<lb/>
Sa&#x0364;ngers, der in die&#x017F;em Zeitalter gebildet war, nach<lb/>
dem Augenmerke einer Welt von Zuho&#x0364;rern, die nach<lb/>
ihrer Zeit dachten, vorge&#x017F;tellet werden: &#x017F;o &#x017F;ang Ho-<lb/>
mer, und anders konnte er nicht &#x017F;ingen &#x2014; <hi rendition="#fr">Ein</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Bar-</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0021] Zweites Waͤldchen. griffe forſchen: aber, wie ein Areopagit im Fin- ſtern urtheilen? Kaum! Der Verfolg wird Beiſpiele liefern, wie ſchie- lend es ſey, uͤber den Uebelſtand homeriſcher Goͤt- ter und Helden, und Menſchen nach den Begriffen unſrer Zeit zu urtheilen. — Jetzt will ich nur fra- gen: ob Homer habe fehlen koͤnnen, daß er ſich nach den Sitten ſeiner Zeit bequemete? und nach wel- chen er ſich denn haͤtte richten ſollen a)? Homer mußte ſich nach den Sitten der Zeit vor ihm bequemen: denn aus dieſer ſchilderte er ſeine Helden, und was er alſo in derſelben fuͤr Be- griffe von Heldengroͤße, Heldenklugheit und Wohl- ſtand fand, ward die Baſis ſeines Gedichts. Wenn dieſe Heldengroͤße ohne Leibesſtaͤrke, ohne Schnellig- keit, ohne Wildigkeit der Leidenſchaft, ohne eine ed- le Einfalt in klugen Anſchlaͤgen, ohne eine kuͤhne Rauhigkeit nicht beſtehen konnte: ſo wurden auch alle dieſe Charaktere ſeinem Gedichte eigen. Auf ſolcher Grundlage ſtand ſein Gebaͤude: Ein Gedicht fuͤr ſeine Zeit. Die Vorſtellun- gen der verfloſſenen Jahrhunderte ſollten in der Sprache ſeines Zeitalters, nach dem Gefuͤhle eines Saͤngers, der in dieſem Zeitalter gebildet war, nach dem Augenmerke einer Welt von Zuhoͤrern, die nach ihrer Zeit dachten, vorgeſtellet werden: ſo ſang Ho- mer, und anders konnte er nicht ſingen — Ein Bar- a) Epiſt. Homer. p. 24.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/21
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/21>, abgerufen am 24.11.2024.