"Ja aber, alte Sage, historische Tradition!" Was Tradition? Sie hat sich aus Martial, aus Apulejus, und wo weiß ich mehr her? entsponnen, und Martial und Apulejus strafen die Tradition selbst Lügen. Der eine schweigt, der eine nennt es ein "scherzhaftes Lobgedicht: ich habe Zeugen, die älter sind, als die Tradition.
Aber das ist Schade, daß man auf der andern Seite rettend fast immer zu weit gegangen, und damit Virgils guter Sache selbst geschadet. Die Ekloge soll blos poetisches Exercitium, soll ganz oh- ne die geringste lebendige Anspielung, Corydon und Alexis sollen ganz romantische Wesen seyn, und dies ist freilich, nach dem, was Martial und Apu- lejus sagen, zu viel verneinet. Virgil kann immer der verkleidete Corydon, Alexis immer der schöne Junge des Pollio, die Ekloge immer ein Jndivi- dualgedicht seyn: nur es ist eine poetische Maske- rade; ein feines Lobgedicht, ein ludicrum, nach Theokrits Manier.
Man thut also am besten, wenn man diese ent- wickelt, wenn man die dem Griechen nachgeahmten Stellen anmerket, wenn man zeigt, daß der ganze Bau des Gedichts keine Halbgeschichte, und keine Halbpoesie zulasse, daß der Poet nach seinem Plane einmal so habe dichten müssen, daß -- doch was zähle ich das her, das in der letzten, schönsten Aus-
gabe
N 2
Zweites Waͤldchen.
„Ja aber, alte Sage, hiſtoriſche Tradition!„ Was Tradition? Sie hat ſich aus Martial, aus Apulejus, und wo weiß ich mehr her? entſponnen, und Martial und Apulejus ſtrafen die Tradition ſelbſt Luͤgen. Der eine ſchweigt, der eine nennt es ein „ſcherzhaftes Lobgedicht: ich habe Zeugen, die aͤlter ſind, als die Tradition.
Aber das iſt Schade, daß man auf der andern Seite rettend faſt immer zu weit gegangen, und damit Virgils guter Sache ſelbſt geſchadet. Die Ekloge ſoll blos poetiſches Exercitium, ſoll ganz oh- ne die geringſte lebendige Anſpielung, Corydon und Alexis ſollen ganz romantiſche Weſen ſeyn, und dies iſt freilich, nach dem, was Martial und Apu- lejus ſagen, zu viel verneinet. Virgil kann immer der verkleidete Corydon, Alexis immer der ſchoͤne Junge des Pollio, die Ekloge immer ein Jndivi- dualgedicht ſeyn: nur es iſt eine poetiſche Maske- rade; ein feines Lobgedicht, ein ludicrum, nach Theokrits Manier.
Man thut alſo am beſten, wenn man dieſe ent- wickelt, wenn man die dem Griechen nachgeahmten Stellen anmerket, wenn man zeigt, daß der ganze Bau des Gedichts keine Halbgeſchichte, und keine Halbpoeſie zulaſſe, daß der Poet nach ſeinem Plane einmal ſo habe dichten muͤſſen, daß — doch was zaͤhle ich das her, das in der letzten, ſchoͤnſten Aus-
gabe
N 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0201"n="195"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Zweites Waͤldchen.</hi></fw><lb/><p>„Ja aber, alte Sage, hiſtoriſche Tradition!„<lb/>
Was Tradition? Sie hat ſich aus Martial, aus<lb/>
Apulejus, und wo weiß ich mehr her? entſponnen,<lb/>
und Martial und Apulejus ſtrafen die Tradition<lb/>ſelbſt Luͤgen. Der eine ſchweigt, der eine nennt es<lb/>
ein „<hirendition="#fr">ſcherzhaftes Lobgedicht:</hi> ich habe Zeugen,<lb/>
die aͤlter ſind, als die Tradition.</p><lb/><p>Aber das iſt Schade, daß man auf der andern<lb/>
Seite rettend faſt immer zu weit gegangen, und<lb/>
damit Virgils guter Sache ſelbſt geſchadet. Die<lb/>
Ekloge ſoll blos poetiſches Exercitium, ſoll ganz oh-<lb/>
ne die geringſte lebendige Anſpielung, Corydon<lb/>
und Alexis ſollen ganz romantiſche Weſen ſeyn, und<lb/>
dies iſt freilich, nach dem, was Martial und Apu-<lb/>
lejus ſagen, zu viel verneinet. Virgil kann immer<lb/>
der verkleidete Corydon, Alexis immer der ſchoͤne<lb/>
Junge des Pollio, die Ekloge immer ein Jndivi-<lb/>
dualgedicht ſeyn: nur es iſt eine poetiſche Maske-<lb/>
rade; ein feines Lobgedicht, ein <hirendition="#aq">ludicrum,</hi> nach<lb/>
Theokrits Manier.</p><lb/><p>Man thut alſo am beſten, wenn man <hirendition="#fr">dieſe</hi> ent-<lb/>
wickelt, wenn man die dem Griechen nachgeahmten<lb/>
Stellen anmerket, wenn man zeigt, daß der ganze<lb/>
Bau des Gedichts keine Halbgeſchichte, und keine<lb/>
Halbpoeſie zulaſſe, daß der Poet nach ſeinem Plane<lb/>
einmal ſo habe dichten muͤſſen, daß — doch was<lb/>
zaͤhle ich das her, das in der letzten, ſchoͤnſten Aus-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">N 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">gabe</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[195/0201]
Zweites Waͤldchen.
„Ja aber, alte Sage, hiſtoriſche Tradition!„
Was Tradition? Sie hat ſich aus Martial, aus
Apulejus, und wo weiß ich mehr her? entſponnen,
und Martial und Apulejus ſtrafen die Tradition
ſelbſt Luͤgen. Der eine ſchweigt, der eine nennt es
ein „ſcherzhaftes Lobgedicht: ich habe Zeugen,
die aͤlter ſind, als die Tradition.
Aber das iſt Schade, daß man auf der andern
Seite rettend faſt immer zu weit gegangen, und
damit Virgils guter Sache ſelbſt geſchadet. Die
Ekloge ſoll blos poetiſches Exercitium, ſoll ganz oh-
ne die geringſte lebendige Anſpielung, Corydon
und Alexis ſollen ganz romantiſche Weſen ſeyn, und
dies iſt freilich, nach dem, was Martial und Apu-
lejus ſagen, zu viel verneinet. Virgil kann immer
der verkleidete Corydon, Alexis immer der ſchoͤne
Junge des Pollio, die Ekloge immer ein Jndivi-
dualgedicht ſeyn: nur es iſt eine poetiſche Maske-
rade; ein feines Lobgedicht, ein ludicrum, nach
Theokrits Manier.
Man thut alſo am beſten, wenn man dieſe ent-
wickelt, wenn man die dem Griechen nachgeahmten
Stellen anmerket, wenn man zeigt, daß der ganze
Bau des Gedichts keine Halbgeſchichte, und keine
Halbpoeſie zulaſſe, daß der Poet nach ſeinem Plane
einmal ſo habe dichten muͤſſen, daß — doch was
zaͤhle ich das her, das in der letzten, ſchoͤnſten Aus-
gabe
N 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/201>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.