Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. geloion in einem Menschen war der Charakter ei-nes süßen innigen Gefallens: das geloion in einer Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war An- nehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieser un- schuldigen Einfalt abwichen; desto mehr wurde der Begriff des "Lächerlichen" daraus. Das geloion in einem menschlichen Charakter ward das "Pic- "quante des Witzlinges" und endlich ganz die Nar- renkappe eines Gecken: das geloion in einem Auf- tritte ward "das Lächerliche, und endlich das Bela- "chenswürdige." Welche Umwandlung von Jde- en! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt das geloion allemal für eine Possenreißerei nehmen will, weil etwa in der lateinischen Uebersetzung "ri- "diculum" steht, und darnach einen Menschencha- rakter in Homer längelang beurtheilen, und tadeln, und verdammen wollte, der könnte freilich sein Wör- terbuch, und seine Uebersetzung, und die Meinung einiger alten Grammatiker auf seiner Seite haben, nicht aber darum auch den ursprünglichen Homer. Ueber den muß man nicht aus Uebersetzung und Wörterbuche, sondern aus dem lebendigen Gebrau- che seiner Zeit urtheilen, oder das sicherste Wort wählen: ouk oida! Zweitens. Wenn die todte, die körperliche Na- sich
Zweites Waͤldchen. γελοιον in einem Menſchen war der Charakter ei-nes ſuͤßen innigen Gefallens: das γελοιον in einer Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war An- nehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieſer un- ſchuldigen Einfalt abwichen; deſto mehr wurde der Begriff des „Laͤcherlichen„ daraus. Das γελοιον in einem menſchlichen Charakter ward das „Pic- „quante des Witzlinges„ und endlich ganz die Nar- renkappe eines Gecken: das γελοιον in einem Auf- tritte ward „das Laͤcherliche, und endlich das Bela- „chenswuͤrdige.„ Welche Umwandlung von Jde- en! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt das γελοιον allemal fuͤr eine Poſſenreißerei nehmen will, weil etwa in der lateiniſchen Ueberſetzung „ri- „diculum„ ſteht, und darnach einen Menſchencha- rakter in Homer laͤngelang beurtheilen, und tadeln, und verdammen wollte, der koͤnnte freilich ſein Woͤr- terbuch, und ſeine Ueberſetzung, und die Meinung einiger alten Grammatiker auf ſeiner Seite haben, nicht aber darum auch den urſpruͤnglichen Homer. Ueber den muß man nicht aus Ueberſetzung und Woͤrterbuche, ſondern aus dem lebendigen Gebrau- che ſeiner Zeit urtheilen, oder das ſicherſte Wort waͤhlen: ουκ οιδα! Zweitens. Wenn die todte, die koͤrperliche Na- ſich
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0019" n="13"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Waͤldchen.</hi></fw><lb/> γελοιον in einem Menſchen war der Charakter ei-<lb/> nes ſuͤßen innigen Gefallens: das γελοιον in einer<lb/> Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war An-<lb/> nehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieſer un-<lb/> ſchuldigen Einfalt abwichen; deſto mehr wurde der<lb/> Begriff des „Laͤcherlichen„ daraus. Das γελοιον<lb/> in einem menſchlichen Charakter ward das „Pic-<lb/> „quante des Witzlinges„ und endlich ganz die Nar-<lb/> renkappe eines Gecken: das γελοιον in einem Auf-<lb/> tritte ward „das Laͤcherliche, und endlich das Bela-<lb/> „chenswuͤrdige.„ Welche Umwandlung von Jde-<lb/> en! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt<lb/> das γελοιον allemal fuͤr eine Poſſenreißerei nehmen<lb/> will, weil etwa in der lateiniſchen Ueberſetzung <hi rendition="#aq">„ri-<lb/> „diculum„</hi> ſteht, und darnach einen Menſchencha-<lb/> rakter in Homer laͤngelang beurtheilen, und tadeln,<lb/> und verdammen wollte, der koͤnnte freilich ſein Woͤr-<lb/> terbuch, und ſeine Ueberſetzung, und die Meinung<lb/> einiger alten Grammatiker auf ſeiner Seite haben,<lb/> nicht aber darum auch den urſpruͤnglichen Homer.<lb/> Ueber den muß man nicht aus Ueberſetzung und<lb/> Woͤrterbuche, ſondern aus dem lebendigen Gebrau-<lb/> che ſeiner Zeit urtheilen, oder das ſicherſte Wort<lb/> waͤhlen: ουκ οιδα!</p><lb/> <p>Zweitens. Wenn die todte, die koͤrperliche Na-<lb/> tur, die Homer malet, ſich ſeit ihm ſchon ſehr ver-<lb/> aͤndert hat, wie viel mehr die Natur der Menſchen,<lb/> die Manier der Charaktere, die Nuͤancen, in denen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſich</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0019]
Zweites Waͤldchen.
γελοιον in einem Menſchen war der Charakter ei-
nes ſuͤßen innigen Gefallens: das γελοιον in einer
Sache, in einer Rede, in einem Auftritte war An-
nehmlichkeit. Je mehr die Zeiten von dieſer un-
ſchuldigen Einfalt abwichen; deſto mehr wurde der
Begriff des „Laͤcherlichen„ daraus. Das γελοιον
in einem menſchlichen Charakter ward das „Pic-
„quante des Witzlinges„ und endlich ganz die Nar-
renkappe eines Gecken: das γελοιον in einem Auf-
tritte ward „das Laͤcherliche, und endlich das Bela-
„chenswuͤrdige.„ Welche Umwandlung von Jde-
en! Wer nun in einem alten Dichter der Einfalt
das γελοιον allemal fuͤr eine Poſſenreißerei nehmen
will, weil etwa in der lateiniſchen Ueberſetzung „ri-
„diculum„ ſteht, und darnach einen Menſchencha-
rakter in Homer laͤngelang beurtheilen, und tadeln,
und verdammen wollte, der koͤnnte freilich ſein Woͤr-
terbuch, und ſeine Ueberſetzung, und die Meinung
einiger alten Grammatiker auf ſeiner Seite haben,
nicht aber darum auch den urſpruͤnglichen Homer.
Ueber den muß man nicht aus Ueberſetzung und
Woͤrterbuche, ſondern aus dem lebendigen Gebrau-
che ſeiner Zeit urtheilen, oder das ſicherſte Wort
waͤhlen: ουκ οιδα!
Zweitens. Wenn die todte, die koͤrperliche Na-
tur, die Homer malet, ſich ſeit ihm ſchon ſehr ver-
aͤndert hat, wie viel mehr die Natur der Menſchen,
die Manier der Charaktere, die Nuͤancen, in denen
ſich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |