Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Wälder.

Von der eigentlichen Anständigkeit unsrer Zeit,
von der Hospolitesse unsres Wohlstandes haben die
Griechen mit allem ihrem aseismos an der Hand
der attischen Venus nichts gewußt; ganz nichts
gewußt. "Schade gnug für sie!" Jmmerhin
Schade! nur noch mehr Schade um den ehrbaren
Tadel unsrer Kunstrichter, die etwas in Griechen-
land suchen, worauf kein Grieche Anspruch machen
will, und das nicht zu schätzen wissen, was sich an
freiem edlen Gefühle unter den Griechen findet! O
daß eine Muse, eine der Charitinnen selbst, aus
Griechenland auflebte, um uns ihre Lieblingsfreun-
dinn, die griechische Schamhaftigkeit, zu zeigen, nur
daß diese keine Kloster- oder Hofpuppe sey!

5.

Ich darf nicht weiter: denn ich habe nur den
Unterschied, der zwischen Nationen und Zeiten seyn
könne, anzeigen, und es merklich machen wollen,
daß wer über die Schamhaftigkeit griechischer und
römischer Autoren urtheilen wolle, aus einem Na-
tionalgefühle derselben urtheilen müsse. Hr. Klotz
hat das erste gewollt, und das letzte nicht gewollt;
in seiner Abhandlung also sind die wahren und fal-
schen Gattungen von Schamhaftigkeit, die natür-
lichen und künstlichen Arten derselben, der griechi-
sche und römische Geschmack hierüber, alle Zeiten,
und allerlei Schriftsteller beider Nationen auf eine

so
Kritiſche Waͤlder.

Von der eigentlichen Anſtaͤndigkeit unſrer Zeit,
von der Hoſpoliteſſe unſres Wohlſtandes haben die
Griechen mit allem ihrem αςεισμος an der Hand
der attiſchen Venus nichts gewußt; ganz nichts
gewußt. „Schade gnug fuͤr ſie!„ Jmmerhin
Schade! nur noch mehr Schade um den ehrbaren
Tadel unſrer Kunſtrichter, die etwas in Griechen-
land ſuchen, worauf kein Grieche Anſpruch machen
will, und das nicht zu ſchaͤtzen wiſſen, was ſich an
freiem edlen Gefuͤhle unter den Griechen findet! O
daß eine Muſe, eine der Charitinnen ſelbſt, aus
Griechenland auflebte, um uns ihre Lieblingsfreun-
dinn, die griechiſche Schamhaftigkeit, zu zeigen, nur
daß dieſe keine Kloſter- oder Hofpuppe ſey!

5.

Ich darf nicht weiter: denn ich habe nur den
Unterſchied, der zwiſchen Nationen und Zeiten ſeyn
koͤnne, anzeigen, und es merklich machen wollen,
daß wer uͤber die Schamhaftigkeit griechiſcher und
roͤmiſcher Autoren urtheilen wolle, aus einem Na-
tionalgefuͤhle derſelben urtheilen muͤſſe. Hr. Klotz
hat das erſte gewollt, und das letzte nicht gewollt;
in ſeiner Abhandlung alſo ſind die wahren und fal-
ſchen Gattungen von Schamhaftigkeit, die natuͤr-
lichen und kuͤnſtlichen Arten derſelben, der griechi-
ſche und roͤmiſche Geſchmack hieruͤber, alle Zeiten,
und allerlei Schriftſteller beider Nationen auf eine

ſo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0172" n="166"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi> </fw><lb/>
          <p>Von der eigentlichen An&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit un&#x017F;rer Zeit,<lb/>
von der Ho&#x017F;polite&#x017F;&#x017F;e un&#x017F;res Wohl&#x017F;tandes haben die<lb/>
Griechen mit allem ihrem &#x03B1;&#x03C2;&#x03B5;&#x03B9;&#x03C3;&#x03BC;&#x03BF;&#x03C2; an der Hand<lb/>
der atti&#x017F;chen Venus nichts gewußt; ganz nichts<lb/>
gewußt. &#x201E;Schade gnug fu&#x0364;r &#x017F;ie!&#x201E; Jmmerhin<lb/>
Schade! nur noch mehr Schade um den ehrbaren<lb/>
Tadel un&#x017F;rer Kun&#x017F;trichter, die etwas in Griechen-<lb/>
land &#x017F;uchen, worauf kein Grieche An&#x017F;pruch machen<lb/>
will, und das nicht zu &#x017F;cha&#x0364;tzen wi&#x017F;&#x017F;en, was &#x017F;ich an<lb/>
freiem edlen Gefu&#x0364;hle unter den Griechen findet! O<lb/>
daß eine Mu&#x017F;e, eine der Charitinnen &#x017F;elb&#x017F;t, aus<lb/>
Griechenland auflebte, um uns ihre Lieblingsfreun-<lb/>
dinn, die griechi&#x017F;che Schamhaftigkeit, zu zeigen, nur<lb/>
daß die&#x017F;e keine Klo&#x017F;ter- oder Hofpuppe &#x017F;ey!</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>5.</head><lb/>
          <p>Ich darf nicht weiter: denn ich habe nur den<lb/>
Unter&#x017F;chied, der zwi&#x017F;chen Nationen und Zeiten &#x017F;eyn<lb/>
ko&#x0364;nne, anzeigen, und es merklich machen wollen,<lb/>
daß wer u&#x0364;ber die Schamhaftigkeit griechi&#x017F;cher und<lb/>
ro&#x0364;mi&#x017F;cher Autoren urtheilen wolle, aus einem Na-<lb/>
tionalgefu&#x0364;hle der&#x017F;elben urtheilen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Hr. Klotz<lb/>
hat das er&#x017F;te gewollt, und das letzte nicht gewollt;<lb/>
in &#x017F;einer Abhandlung al&#x017F;o &#x017F;ind die wahren und fal-<lb/>
&#x017F;chen Gattungen von Schamhaftigkeit, die natu&#x0364;r-<lb/>
lichen und ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Arten der&#x017F;elben, der griechi-<lb/>
&#x017F;che und ro&#x0364;mi&#x017F;che Ge&#x017F;chmack hieru&#x0364;ber, alle Zeiten,<lb/>
und allerlei Schrift&#x017F;teller beider Nationen auf eine<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[166/0172] Kritiſche Waͤlder. Von der eigentlichen Anſtaͤndigkeit unſrer Zeit, von der Hoſpoliteſſe unſres Wohlſtandes haben die Griechen mit allem ihrem αςεισμος an der Hand der attiſchen Venus nichts gewußt; ganz nichts gewußt. „Schade gnug fuͤr ſie!„ Jmmerhin Schade! nur noch mehr Schade um den ehrbaren Tadel unſrer Kunſtrichter, die etwas in Griechen- land ſuchen, worauf kein Grieche Anſpruch machen will, und das nicht zu ſchaͤtzen wiſſen, was ſich an freiem edlen Gefuͤhle unter den Griechen findet! O daß eine Muſe, eine der Charitinnen ſelbſt, aus Griechenland auflebte, um uns ihre Lieblingsfreun- dinn, die griechiſche Schamhaftigkeit, zu zeigen, nur daß dieſe keine Kloſter- oder Hofpuppe ſey! 5. Ich darf nicht weiter: denn ich habe nur den Unterſchied, der zwiſchen Nationen und Zeiten ſeyn koͤnne, anzeigen, und es merklich machen wollen, daß wer uͤber die Schamhaftigkeit griechiſcher und roͤmiſcher Autoren urtheilen wolle, aus einem Na- tionalgefuͤhle derſelben urtheilen muͤſſe. Hr. Klotz hat das erſte gewollt, und das letzte nicht gewollt; in ſeiner Abhandlung alſo ſind die wahren und fal- ſchen Gattungen von Schamhaftigkeit, die natuͤr- lichen und kuͤnſtlichen Arten derſelben, der griechi- ſche und roͤmiſche Geſchmack hieruͤber, alle Zeiten, und allerlei Schriftſteller beider Nationen auf eine ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/172
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/172>, abgerufen am 22.11.2024.