Wie nun? Jsts wohl so leicht, Homer zu ta- deln? ich meyne so leicht für uns, in unsrer Zeit, Denkart und Sprache? Es sollte scheinen. Denn sind wir nicht in Gelehrsamkeit und Wissenschaft, und Stuffe der Cultur ungleich höher, als das Zeit- alter Homers? Jst die Welt nicht drei tausend Jahr älter, und also auch vielleicht drei tausendmal erfahr- ner und klüger geworden? Kniet also nicht der Alt- vater Homer vor dem Geschmacke und Urtheile un- sers Zeitalters, wie vor dem Tribunal des jüngsten Gerichts? Und wie denn nicht vor einem Vorsitzer und geheimen Rathe desselben? Jch sollte fast glau- ben! oder beinahe nicht glauben: denn unser Jahr- hundert mag in allem, was Gelehrsamkeit heißt, so hoch gekommen seyn, als es will und ist; so ists doch in allem, was zur poetischen Beurtheilung Homers gehört, nicht höher; ja ich behaupte, daß es hierinn dem Jahrhunderte geborner Griechen, die Homers Zeitgenossen, oder wenigstens Landsleute und Brüder einer Sprache mit ihm waren, weit hinten nach sey. Wir sind nicht nur nicht höher hin- auf, wir sind gewisser maßen aus der Welt hinaus gerückt, in der Homer dichtete, schilderte und sang.
Homers Sprache ist nicht die unsre. Er sang; da dieselbe noch blos in dem Munde der artikulirt sprechenden Menschen, wie er sie nennet, lebte, noch keine Bücher, noch keine grammatische, und am
wenig-
Kritiſche Waͤlder
Wie nun? Jſts wohl ſo leicht, Homer zu ta- deln? ich meyne ſo leicht fuͤr uns, in unſrer Zeit, Denkart und Sprache? Es ſollte ſcheinen. Denn ſind wir nicht in Gelehrſamkeit und Wiſſenſchaft, und Stuffe der Cultur ungleich hoͤher, als das Zeit- alter Homers? Jſt die Welt nicht drei tauſend Jahr aͤlter, und alſo auch vielleicht drei tauſendmal erfahr- ner und kluͤger geworden? Kniet alſo nicht der Alt- vater Homer vor dem Geſchmacke und Urtheile un- ſers Zeitalters, wie vor dem Tribunal des juͤngſten Gerichts? Und wie denn nicht vor einem Vorſitzer und geheimen Rathe deſſelben? Jch ſollte faſt glau- ben! oder beinahe nicht glauben: denn unſer Jahr- hundert mag in allem, was Gelehrſamkeit heißt, ſo hoch gekommen ſeyn, als es will und iſt; ſo iſts doch in allem, was zur poetiſchen Beurtheilung Homers gehoͤrt, nicht hoͤher; ja ich behaupte, daß es hierinn dem Jahrhunderte geborner Griechen, die Homers Zeitgenoſſen, oder wenigſtens Landsleute und Bruͤder einer Sprache mit ihm waren, weit hinten nach ſey. Wir ſind nicht nur nicht hoͤher hin- auf, wir ſind gewiſſer maßen aus der Welt hinaus geruͤckt, in der Homer dichtete, ſchilderte und ſang.
Homers Sprache iſt nicht die unſre. Er ſang; da dieſelbe noch blos in dem Munde der artikulirt ſprechenden Menſchen, wie er ſie nennet, lebte, noch keine Buͤcher, noch keine grammatiſche, und am
wenig-
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Kritiſche Waͤlder
Wie nun? Jſts wohl ſo leicht, Homer zu ta-
deln? ich meyne ſo leicht fuͤr uns, in unſrer Zeit,
Denkart und Sprache? Es ſollte ſcheinen. Denn
ſind wir nicht in Gelehrſamkeit und Wiſſenſchaft,
und Stuffe der Cultur ungleich hoͤher, als das Zeit-
alter Homers? Jſt die Welt nicht drei tauſend Jahr
aͤlter, und alſo auch vielleicht drei tauſendmal erfahr-
ner und kluͤger geworden? Kniet alſo nicht der Alt-
vater Homer vor dem Geſchmacke und Urtheile un-
ſers Zeitalters, wie vor dem Tribunal des juͤngſten
Gerichts? Und wie denn nicht vor einem Vorſitzer
und geheimen Rathe deſſelben? Jch ſollte faſt glau-
ben! oder beinahe nicht glauben: denn unſer Jahr-
hundert mag in allem, was Gelehrſamkeit heißt,
ſo hoch gekommen ſeyn, als es will und iſt; ſo iſts
doch in allem, was zur poetiſchen Beurtheilung
Homers gehoͤrt, nicht hoͤher; ja ich behaupte, daß
es hierinn dem Jahrhunderte geborner Griechen, die
Homers Zeitgenoſſen, oder wenigſtens Landsleute
und Bruͤder einer Sprache mit ihm waren, weit
hinten nach ſey. Wir ſind nicht nur nicht hoͤher hin-
auf, wir ſind gewiſſer maßen aus der Welt
hinaus geruͤckt, in der Homer dichtete, ſchilderte
und ſang.
Homers Sprache iſt nicht die unſre. Er ſang;
da dieſelbe noch blos in dem Munde der artikulirt
ſprechenden Menſchen, wie er ſie nennet, lebte, noch
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/16>, abgerufen am 16.02.2025.
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