Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. nicht nothwendig mit Tugend einerlei: sie ist vonder moralischen Schaam völlig verschieden. Als jener Spötter vom Parterr herauf rief: "An diesen "Damen ist nichts so keusch, als die Ohren!" so mag man ihn immer unverschämt, sündigend ge- gen die Gesetze des gesellschaftlichen Anstandes haben erkennen können: so unwahr, so gerade gegen mora- lische Schamhaftigkeit redete er eben nicht. Wenn man ihn gefragt hätte: wie? Unverschämter! muß denn an einer Dame das Ohr nicht keusch seyn? und das der Anständigkeit wegen! so hätte er erwie- dern dörfen: und, eben der Anständigkeit wegen, darf da an eben derselben Dame wohl nothwendig Alles so keusch seyn, als das Ohr? -- Nicht, als wenn es nicht seyn könnte, sondern seyn müßte: als wenn die bürgerliche, schon die moralische Scham- haftigkeit wäre, und das ist sie nicht! Die morali- sche Schamhaftigkeit vor Einem Laster, als Laster, ist ganz etwas Anders! Oft scheinen sie sich nahe zu kommen; aber oft so K 5
Zweites Waͤldchen. nicht nothwendig mit Tugend einerlei: ſie iſt vonder moraliſchen Schaam voͤllig verſchieden. Als jener Spoͤtter vom Parterr herauf rief: „An dieſen „Damen iſt nichts ſo keuſch, als die Ohren!„ ſo mag man ihn immer unverſchaͤmt, ſuͤndigend ge- gen die Geſetze des geſellſchaftlichen Anſtandes haben erkennen koͤnnen: ſo unwahr, ſo gerade gegen mora- liſche Schamhaftigkeit redete er eben nicht. Wenn man ihn gefragt haͤtte: wie? Unverſchaͤmter! muß denn an einer Dame das Ohr nicht keuſch ſeyn? und das der Anſtaͤndigkeit wegen! ſo haͤtte er erwie- dern doͤrfen: und, eben der Anſtaͤndigkeit wegen, darf da an eben derſelben Dame wohl nothwendig Alles ſo keuſch ſeyn, als das Ohr? — Nicht, als wenn es nicht ſeyn koͤnnte, ſondern ſeyn muͤßte: als wenn die buͤrgerliche, ſchon die moraliſche Scham- haftigkeit waͤre, und das iſt ſie nicht! Die morali- ſche Schamhaftigkeit vor Einem Laſter, als Laſter, iſt ganz etwas Anders! Oft ſcheinen ſie ſich nahe zu kommen; aber oft ſo K 5
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Zweites Waͤldchen.
nicht nothwendig mit Tugend einerlei: ſie iſt von
der moraliſchen Schaam voͤllig verſchieden. Als
jener Spoͤtter vom Parterr herauf rief: „An dieſen
„Damen iſt nichts ſo keuſch, als die Ohren!„ ſo
mag man ihn immer unverſchaͤmt, ſuͤndigend ge-
gen die Geſetze des geſellſchaftlichen Anſtandes haben
erkennen koͤnnen: ſo unwahr, ſo gerade gegen mora-
liſche Schamhaftigkeit redete er eben nicht. Wenn
man ihn gefragt haͤtte: wie? Unverſchaͤmter! muß
denn an einer Dame das Ohr nicht keuſch ſeyn?
und das der Anſtaͤndigkeit wegen! ſo haͤtte er erwie-
dern doͤrfen: und, eben der Anſtaͤndigkeit wegen,
darf da an eben derſelben Dame wohl nothwendig
Alles ſo keuſch ſeyn, als das Ohr? — Nicht, als
wenn es nicht ſeyn koͤnnte, ſondern ſeyn muͤßte: als
wenn die buͤrgerliche, ſchon die moraliſche Scham-
haftigkeit waͤre, und das iſt ſie nicht! Die morali-
ſche Schamhaftigkeit vor Einem Laſter, als Laſter,
iſt ganz etwas Anders!
Oft ſcheinen ſie ſich nahe zu kommen; aber oft
zu nahe, ſo, daß die Eine die Andre unnoͤthig zu
machen glaubt. Da die politiſche Tugend oft als
der Schein der wahren Tugend gilt: ſo laͤßt man
ſich oft mit dem Scheine begnuͤgen, und natuͤrlich,
daß man alsdenn um ſo mehr auf den Schein erpicht
ſeyn wird, je weniger man das Weſen hat. Wer
mit gefaͤrbtem Glaſe, wie mit Edelgeſteinen, pran-
gen darf, wird dieſe um ſo mehr aufputzen, ſie um
ſo
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