Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. nennen darf, artig andeuten zu wollen. Das istder Ursprung galanter Zweideutigkeiten! Zween, drei Ausdrücke wurden aus der Sprache des An- standes weggebannet, und dem Pöbel überlassen; zwanzig Umschreibungen aber, funfzig verblümte Redarten, und hundert Zweideutigkeiten, wobei nur der feine Kopf etwas merkt, dagegen einge- nommen, und das hieß gesittete, übliche, züchtige Sprache des Jahrhunderts. Züchtig! meinetwe- gen! so züchtig, daß Crebillonsche Romane alle mögliche Unzüchtigkeiten, mit aller feinen Zucht, vor- tragen, mit allen lüsternen Täuschungen, durch die, wie durch einen leichten Flor die üppigen Reize blos durchschimmern, uns alle Scenen und Akte der Unehrbarkeit sehr ehrbar mahlen können. Ueblich? allerdings so üblich, daß wer die neueste Verdre- hung dieses oder des Ausdrucks, das Unglück hat, nicht zu verstehen, nach allen Gesetzen des Ueblichen, nach der neuesten Bedeutung des artigen Wörter- buchs, in Gefahr geräth, der ernsthafteste Zoten- reißer zu werden. Gesittet? so gesittet, daß man mit dem Sittsamen der artigen Welt alle Sitten der Tugend beschämen, alle Musen und Gratien der wahren Sittsamkeit erröthend machen kann! Das sind die artigen Früchte des löblichen kakopha- ton! Tantum fuit in Romanis verecundiae stu- dium! tam diligenter castis auribus pepercerunt! Quin- K
Zweites Waͤldchen. nennen darf, artig andeuten zu wollen. Das iſtder Urſprung galanter Zweideutigkeiten! Zween, drei Ausdruͤcke wurden aus der Sprache des An- ſtandes weggebannet, und dem Poͤbel uͤberlaſſen; zwanzig Umſchreibungen aber, funfzig verbluͤmte Redarten, und hundert Zweideutigkeiten, wobei nur der feine Kopf etwas merkt, dagegen einge- nommen, und das hieß geſittete, uͤbliche, zuͤchtige Sprache des Jahrhunderts. Zuͤchtig! meinetwe- gen! ſo zuͤchtig, daß Crebillonſche Romane alle moͤgliche Unzuͤchtigkeiten, mit aller feinen Zucht, vor- tragen, mit allen luͤſternen Taͤuſchungen, durch die, wie durch einen leichten Flor die uͤppigen Reize blos durchſchimmern, uns alle Scenen und Akte der Unehrbarkeit ſehr ehrbar mahlen koͤnnen. Ueblich? allerdings ſo uͤblich, daß wer die neueſte Verdre- hung dieſes oder des Ausdrucks, das Ungluͤck hat, nicht zu verſtehen, nach allen Geſetzen des Ueblichen, nach der neueſten Bedeutung des artigen Woͤrter- buchs, in Gefahr geraͤth, der ernſthafteſte Zoten- reißer zu werden. Geſittet? ſo geſittet, daß man mit dem Sittſamen der artigen Welt alle Sitten der Tugend beſchaͤmen, alle Muſen und Gratien der wahren Sittſamkeit erroͤthend machen kann! Das ſind die artigen Fruͤchte des loͤblichen κακοφα- τον! Tantum fuit in Romanis verecundiae ſtu- dium! tam diligenter caſtis auribus pepercerunt! Quin- K
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0151" n="145"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zweites Waͤldchen.</hi></fw><lb/> nennen darf, artig andeuten zu wollen. Das iſt<lb/> der Urſprung galanter Zweideutigkeiten! Zween,<lb/> drei Ausdruͤcke wurden aus der Sprache des An-<lb/> ſtandes weggebannet, und dem Poͤbel uͤberlaſſen;<lb/> zwanzig Umſchreibungen aber, funfzig verbluͤmte<lb/> Redarten, und hundert Zweideutigkeiten, wobei<lb/> nur der feine Kopf etwas merkt, dagegen einge-<lb/> nommen, und das hieß geſittete, uͤbliche, zuͤchtige<lb/> Sprache des Jahrhunderts. Zuͤchtig! meinetwe-<lb/> gen! ſo zuͤchtig, daß Crebillonſche Romane alle<lb/> moͤgliche Unzuͤchtigkeiten, mit aller feinen Zucht, vor-<lb/> tragen, mit allen luͤſternen Taͤuſchungen, durch die,<lb/> wie durch einen leichten Flor die uͤppigen Reize blos<lb/> durchſchimmern, uns alle Scenen und Akte der<lb/> Unehrbarkeit ſehr ehrbar mahlen koͤnnen. <hi rendition="#fr">Ueblich?</hi><lb/> allerdings ſo uͤblich, daß wer die neueſte Verdre-<lb/> hung dieſes oder des Ausdrucks, das Ungluͤck hat,<lb/> nicht zu verſtehen, nach allen Geſetzen des Ueblichen,<lb/> nach der neueſten Bedeutung des artigen Woͤrter-<lb/> buchs, in Gefahr geraͤth, der ernſthafteſte Zoten-<lb/> reißer zu werden. Geſittet? ſo geſittet, daß man<lb/> mit dem Sittſamen der artigen Welt alle Sitten<lb/> der Tugend beſchaͤmen, alle Muſen und Gratien<lb/> der wahren Sittſamkeit erroͤthend machen kann!<lb/> Das ſind die artigen Fruͤchte des loͤblichen κακοφα-<lb/> τον! <hi rendition="#aq">Tantum fuit in Romanis verecundiae ſtu-<lb/> dium! tam diligenter caſtis auribus pepercerunt!</hi></p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">K</fw> <fw place="bottom" type="catch">Quin-</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [145/0151]
Zweites Waͤldchen.
nennen darf, artig andeuten zu wollen. Das iſt
der Urſprung galanter Zweideutigkeiten! Zween,
drei Ausdruͤcke wurden aus der Sprache des An-
ſtandes weggebannet, und dem Poͤbel uͤberlaſſen;
zwanzig Umſchreibungen aber, funfzig verbluͤmte
Redarten, und hundert Zweideutigkeiten, wobei
nur der feine Kopf etwas merkt, dagegen einge-
nommen, und das hieß geſittete, uͤbliche, zuͤchtige
Sprache des Jahrhunderts. Zuͤchtig! meinetwe-
gen! ſo zuͤchtig, daß Crebillonſche Romane alle
moͤgliche Unzuͤchtigkeiten, mit aller feinen Zucht, vor-
tragen, mit allen luͤſternen Taͤuſchungen, durch die,
wie durch einen leichten Flor die uͤppigen Reize blos
durchſchimmern, uns alle Scenen und Akte der
Unehrbarkeit ſehr ehrbar mahlen koͤnnen. Ueblich?
allerdings ſo uͤblich, daß wer die neueſte Verdre-
hung dieſes oder des Ausdrucks, das Ungluͤck hat,
nicht zu verſtehen, nach allen Geſetzen des Ueblichen,
nach der neueſten Bedeutung des artigen Woͤrter-
buchs, in Gefahr geraͤth, der ernſthafteſte Zoten-
reißer zu werden. Geſittet? ſo geſittet, daß man
mit dem Sittſamen der artigen Welt alle Sitten
der Tugend beſchaͤmen, alle Muſen und Gratien
der wahren Sittſamkeit erroͤthend machen kann!
Das ſind die artigen Fruͤchte des loͤblichen κακοφα-
τον! Tantum fuit in Romanis verecundiae ſtu-
dium! tam diligenter caſtis auribus pepercerunt!
Quin-
K
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |