Das kakophaton ist nach Quintilians Beschrei- bung a), si mala consuetudine in obscoenum in- tellectum sermo detortus est: und nun sage man, wie es ein Kennzeichen der wahren Schamhaftig- keit eines Volks? wie es die erste Probe von der Schamhaftigkeit eines Schriftstellers, eines Poe- ten, seyn könne? Ein Volk, das in den Gränzen der wahren Schamhaftigkeit bleibt, wird sich nicht einfallen lassen, diesen und jenen Ausdruck auf einen obscönen Sinn mit den Haaren herbei zu reißen, es wird nicht aus Worten, quae longissime ab ob- scoenitate absunt, occasionem turpitudinis rapere, es wird nichts vom kakophaton wissen. So z. E. die biblischen Dichter in ihren Zeiten der unschuldi- gen Einfalt: so die alten Griechen; so, nach den Beispielen eben des Quintilians, die alten Römer. Jhr Sallustius dachte daran nicht, daß eine spä- tere üppige Zeit sein ductare exercitus und patrare bellum obscön verstehen würde: er sagte es sancte & religiose: er begieng also ein kakophaton. Wer war nun ehrbarer, der es begieng, ohne daß ers wollte, oder der es zuerst zum kakophaton machte, der die Bedeutung desselben obscön verdrehete, der den Ausdruck nothzüchtigte? Ohne Bedenken, der letzte! und eben das Volk, der Schriftsteller ist der ehrbarste, der von keinem kakophaton weiß -- ge- rade das Widerspiel, als was Herr Klotz be- hauptet.
Wie
a)Instit. orator. VIII. 3.
Zweites Waͤldchen.
Das κακοφατον iſt nach Quintilians Beſchrei- bung a), ſi mala conſuetudine in obſcoenum in- tellectum ſermo detortus eſt: und nun ſage man, wie es ein Kennzeichen der wahren Schamhaftig- keit eines Volks? wie es die erſte Probe von der Schamhaftigkeit eines Schriftſtellers, eines Poe- ten, ſeyn koͤnne? Ein Volk, das in den Graͤnzen der wahren Schamhaftigkeit bleibt, wird ſich nicht einfallen laſſen, dieſen und jenen Ausdruck auf einen obſcoͤnen Sinn mit den Haaren herbei zu reißen, es wird nicht aus Worten, quae longiſſime ab ob- ſcoenitate abſunt, occaſionem turpitudinis rapere, es wird nichts vom κακοφατον wiſſen. So z. E. die bibliſchen Dichter in ihren Zeiten der unſchuldi- gen Einfalt: ſo die alten Griechen; ſo, nach den Beiſpielen eben des Quintilians, die alten Roͤmer. Jhr Salluſtius dachte daran nicht, daß eine ſpaͤ- tere uͤppige Zeit ſein ductare exercitus und patrare bellum obſcoͤn verſtehen wuͤrde: er ſagte es ſancte & religioſe: er begieng alſo ein κακοφατον. Wer war nun ehrbarer, der es begieng, ohne daß ers wollte, oder der es zuerſt zum κακοφατον machte, der die Bedeutung deſſelben obſcoͤn verdrehete, der den Ausdruck nothzuͤchtigte? Ohne Bedenken, der letzte! und eben das Volk, der Schriftſteller iſt der ehrbarſte, der von keinem κακοφατον weiß — ge- rade das Widerſpiel, als was Herr Klotz be- hauptet.
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a)Inſtit. orator. VIII. 3.
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Zweites Waͤldchen.
Das κακοφατον iſt nach Quintilians Beſchrei-
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tellectum ſermo detortus eſt: und nun ſage man,
wie es ein Kennzeichen der wahren Schamhaftig-
keit eines Volks? wie es die erſte Probe von der
Schamhaftigkeit eines Schriftſtellers, eines Poe-
ten, ſeyn koͤnne? Ein Volk, das in den Graͤnzen
der wahren Schamhaftigkeit bleibt, wird ſich nicht
einfallen laſſen, dieſen und jenen Ausdruck auf einen
obſcoͤnen Sinn mit den Haaren herbei zu reißen, es
wird nicht aus Worten, quae longiſſime ab ob-
ſcoenitate abſunt, occaſionem turpitudinis rapere,
es wird nichts vom κακοφατον wiſſen. So z. E.
die bibliſchen Dichter in ihren Zeiten der unſchuldi-
gen Einfalt: ſo die alten Griechen; ſo, nach den
Beiſpielen eben des Quintilians, die alten Roͤmer.
Jhr Salluſtius dachte daran nicht, daß eine ſpaͤ-
tere uͤppige Zeit ſein ductare exercitus und patrare
bellum obſcoͤn verſtehen wuͤrde: er ſagte es ſancte
& religioſe: er begieng alſo ein κακοφατον. Wer
war nun ehrbarer, der es begieng, ohne daß ers
wollte, oder der es zuerſt zum κακοφατον machte,
der die Bedeutung deſſelben obſcoͤn verdrehete, der
den Ausdruck nothzuͤchtigte? Ohne Bedenken, der
letzte! und eben das Volk, der Schriftſteller iſt der
ehrbarſte, der von keinem κακοφατον weiß — ge-
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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/145>, abgerufen am 16.02.2025.
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