Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
Wahrheiten und Bildern von einem poetischen Kopfe
nicht so glückliche Fictionen geschaffen werden müß-
ten, als ein Fontenelle über die Wirbel des Des-
Cartes witzige Einfälle dichten konnte -- aber daß
diese mögliche Ausbeute dem unzählbaren Reich-
thume mythologischer Dichtungen und Geschichte
und Fabeln je gleichkommen, daß sie denselben völ-
lig überlei machen könnte, das leugne ich völlig!
Aus der Mythologie eben lerne man, die Natur-
kunde dichterisch zu bilden, nicht aber aus der Na-
turkunde die Mythologie zu verbannen.

Zweitens: "neuere Entdeckungen neuer Länder
"und Welten!" und was haben uns diese für die
Dichtkunst entdecken lassen, das der Mythologie
gleich gölte? Bäume und Pflanzen? So viel ein
indianischer Plinius, ein Rumph, eine Merian
u. a. die Welt des Kräuterkenners, und den Be-
griff der Schöpfung Gottes erweitern: so viel Ver-
gnügen und Nutzen man in einem malabarischen
Garten
finde; so doch das wenigste zum Gebrauche
der wahren Dichtung. Die Namen der neuen
Kräuter sind unpoetisch; ihre Gestalt und Unter-
schied nicht durchgängig bekannt, nur der Zeichner,
nicht der Wortmaler, kann sie anschauend sinnlich
machen. Züdem sind solche brockessche Malereien
ja nicht Hauptzwecke der Dichtkunst, und was z. E.
der Verfasser des Zuckerrohrs poetisches in sein
Poem gebracht, ist dem mindsten Theile nach

aus

Kritiſche Waͤlder.
Wahrheiten und Bildern von einem poetiſchen Kopfe
nicht ſo gluͤckliche Fictionen geſchaffen werden muͤß-
ten, als ein Fontenelle uͤber die Wirbel des Des-
Cartes witzige Einfaͤlle dichten konnte — aber daß
dieſe moͤgliche Ausbeute dem unzaͤhlbaren Reich-
thume mythologiſcher Dichtungen und Geſchichte
und Fabeln je gleichkommen, daß ſie denſelben voͤl-
lig uͤberlei machen koͤnnte, das leugne ich voͤllig!
Aus der Mythologie eben lerne man, die Natur-
kunde dichteriſch zu bilden, nicht aber aus der Na-
turkunde die Mythologie zu verbannen.

Zweitens: „neuere Entdeckungen neuer Laͤnder
„und Welten!„ und was haben uns dieſe fuͤr die
Dichtkunſt entdecken laſſen, das der Mythologie
gleich goͤlte? Baͤume und Pflanzen? So viel ein
indianiſcher Plinius, ein Rumph, eine Merian
u. a. die Welt des Kraͤuterkenners, und den Be-
griff der Schoͤpfung Gottes erweitern: ſo viel Ver-
gnuͤgen und Nutzen man in einem malabariſchen
Garten
finde; ſo doch das wenigſte zum Gebrauche
der wahren Dichtung. Die Namen der neuen
Kraͤuter ſind unpoetiſch; ihre Geſtalt und Unter-
ſchied nicht durchgaͤngig bekannt, nur der Zeichner,
nicht der Wortmaler, kann ſie anſchauend ſinnlich
machen. Zuͤdem ſind ſolche brockesſche Malereien
ja nicht Hauptzwecke der Dichtkunſt, und was z. E.
der Verfaſſer des Zuckerrohrs poetiſches in ſein
Poem gebracht, iſt dem mindſten Theile nach

aus
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0114" n="108"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
Wahrheiten und Bildern von einem poeti&#x017F;chen Kopfe<lb/>
nicht &#x017F;o glu&#x0364;ckliche Fictionen ge&#x017F;chaffen werden mu&#x0364;ß-<lb/>
ten, als ein Fontenelle u&#x0364;ber die Wirbel des Des-<lb/>
Cartes witzige Einfa&#x0364;lle dichten konnte &#x2014; aber daß<lb/>
die&#x017F;e mo&#x0364;gliche Ausbeute dem unza&#x0364;hlbaren Reich-<lb/>
thume mythologi&#x017F;cher Dichtungen und Ge&#x017F;chichte<lb/>
und Fabeln je gleichkommen, daß &#x017F;ie den&#x017F;elben vo&#x0364;l-<lb/>
lig u&#x0364;berlei machen ko&#x0364;nnte, das leugne ich vo&#x0364;llig!<lb/>
Aus der Mythologie eben lerne man, die Natur-<lb/>
kunde dichteri&#x017F;ch zu bilden, nicht aber aus der Na-<lb/>
turkunde die Mythologie zu verbannen.</p><lb/>
          <p>Zweitens: &#x201E;neuere Entdeckungen neuer La&#x0364;nder<lb/>
&#x201E;und Welten!&#x201E; und was haben uns die&#x017F;e fu&#x0364;r die<lb/>
Dichtkun&#x017F;t entdecken la&#x017F;&#x017F;en, das der Mythologie<lb/>
gleich go&#x0364;lte? Ba&#x0364;ume und Pflanzen? So viel ein<lb/>
indiani&#x017F;cher <hi rendition="#fr">Plinius,</hi> ein <hi rendition="#fr">Rumph,</hi> eine <hi rendition="#fr">Merian</hi><lb/>
u. a. die Welt des Kra&#x0364;uterkenners, und den Be-<lb/>
griff der Scho&#x0364;pfung Gottes erweitern: &#x017F;o viel Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen und Nutzen man in einem <hi rendition="#fr">malabari&#x017F;chen<lb/>
Garten</hi> finde; &#x017F;o doch das wenig&#x017F;te zum Gebrauche<lb/>
der wahren Dichtung. Die Namen der neuen<lb/>
Kra&#x0364;uter &#x017F;ind unpoeti&#x017F;ch; ihre Ge&#x017F;talt und Unter-<lb/>
&#x017F;chied nicht durchga&#x0364;ngig bekannt, nur der Zeichner,<lb/>
nicht der Wortmaler, kann &#x017F;ie an&#x017F;chauend &#x017F;innlich<lb/>
machen. Zu&#x0364;dem &#x017F;ind &#x017F;olche <hi rendition="#fr">brockes&#x017F;che</hi> Malereien<lb/>
ja nicht Hauptzwecke der Dichtkun&#x017F;t, und was z. E.<lb/>
der Verfa&#x017F;&#x017F;er des Zuckerrohrs poeti&#x017F;ches in &#x017F;ein<lb/>
Poem gebracht, i&#x017F;t dem mind&#x017F;ten Theile nach<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">aus</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0114] Kritiſche Waͤlder. Wahrheiten und Bildern von einem poetiſchen Kopfe nicht ſo gluͤckliche Fictionen geſchaffen werden muͤß- ten, als ein Fontenelle uͤber die Wirbel des Des- Cartes witzige Einfaͤlle dichten konnte — aber daß dieſe moͤgliche Ausbeute dem unzaͤhlbaren Reich- thume mythologiſcher Dichtungen und Geſchichte und Fabeln je gleichkommen, daß ſie denſelben voͤl- lig uͤberlei machen koͤnnte, das leugne ich voͤllig! Aus der Mythologie eben lerne man, die Natur- kunde dichteriſch zu bilden, nicht aber aus der Na- turkunde die Mythologie zu verbannen. Zweitens: „neuere Entdeckungen neuer Laͤnder „und Welten!„ und was haben uns dieſe fuͤr die Dichtkunſt entdecken laſſen, das der Mythologie gleich goͤlte? Baͤume und Pflanzen? So viel ein indianiſcher Plinius, ein Rumph, eine Merian u. a. die Welt des Kraͤuterkenners, und den Be- griff der Schoͤpfung Gottes erweitern: ſo viel Ver- gnuͤgen und Nutzen man in einem malabariſchen Garten finde; ſo doch das wenigſte zum Gebrauche der wahren Dichtung. Die Namen der neuen Kraͤuter ſind unpoetiſch; ihre Geſtalt und Unter- ſchied nicht durchgaͤngig bekannt, nur der Zeichner, nicht der Wortmaler, kann ſie anſchauend ſinnlich machen. Zuͤdem ſind ſolche brockesſche Malereien ja nicht Hauptzwecke der Dichtkunſt, und was z. E. der Verfaſſer des Zuckerrohrs poetiſches in ſein Poem gebracht, iſt dem mindſten Theile nach aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/114
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/114>, abgerufen am 25.11.2024.