Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
der Macht der Göttin, ist also hier als Charakter-
zug nöthig, und zum viel fassenden Eindrucke taug-
lich: es erhebt die Schönheit. Meduse also dorf-
te nicht nothwendig ein Bild der Häßlichkeit seyn.

Und die Furien eben so wenig. Die Ehr-
würdigen:
so nannten die Athenienser sie, und so
konnten sie die Künstler bilden: "weder an ihren
"Bildnissen, sagt Pausanias a), noch an den Ab-
"bildungen der unterirdischen Götter, die im Areo-
"pagus stehen, ist was fürchterliches wahrzuneh-
"men." Und wenn nicht an den Furien; an den
eigentlichen Rach- und Plagegöttinnen: wenn nicht
an den unterirdischen Göttern; wenn nicht selbst im
Areopagus, dem ernsthaftesten Orte zu Athen --
wo und an welchen Bildungen hättte denn das
Gräuliche der Hauptcharakter seyn müssen?

Jch darf also behaupten, daß alle mythische
Figuren des Zirkels, die als Hauptfiguren, einzeln,
ihrem innern und beständigen Charakter gemäß, ha-
ben erscheinen sollen, das Widerliche und Gräßli-
che nie zur nothwendigen Bildung haben dorften.
Selbst bis auf den Schlaf und den Tod b) erstreckt

sich
a) In Attic. c. 28.
b) Laok. p. 121. Die lessingische
Erklärung des diestr[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]mmen[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]s t[fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]s podas scheint dem Sprach-
gebrauche zu widersprechen; und wenn es aufs Muth-
maßen ankäme, könnte ich eben so sagen: "sie schliefen
"mit über einander geschlagnen Füßen" d. i. des einen
Fuß streckte sich über den andern hin, um die Verwandt-
schaft des Schlafs und Todes anzuzeigen u. s. w.
F 2

Erſtes Waͤldchen.
der Macht der Goͤttin, iſt alſo hier als Charakter-
zug noͤthig, und zum viel faſſenden Eindrucke taug-
lich: es erhebt die Schoͤnheit. Meduſe alſo dorf-
te nicht nothwendig ein Bild der Haͤßlichkeit ſeyn.

Und die Furien eben ſo wenig. Die Ehr-
wuͤrdigen:
ſo nannten die Athenienſer ſie, und ſo
konnten ſie die Kuͤnſtler bilden: „weder an ihren
„Bildniſſen, ſagt Pauſanias a), noch an den Ab-
„bildungen der unterirdiſchen Goͤtter, die im Areo-
„pagus ſtehen, iſt was fuͤrchterliches wahrzuneh-
„men.„ Und wenn nicht an den Furien; an den
eigentlichen Rach- und Plagegoͤttinnen: wenn nicht
an den unterirdiſchen Goͤttern; wenn nicht ſelbſt im
Areopagus, dem ernſthafteſten Orte zu Athen —
wo und an welchen Bildungen haͤttte denn das
Graͤuliche der Hauptcharakter ſeyn muͤſſen?

Jch darf alſo behaupten, daß alle mythiſche
Figuren des Zirkels, die als Hauptfiguren, einzeln,
ihrem innern und beſtaͤndigen Charakter gemaͤß, ha-
ben erſcheinen ſollen, das Widerliche und Graͤßli-
che nie zur nothwendigen Bildung haben dorften.
Selbſt bis auf den Schlaf und den Tod b) erſtreckt

ſich
a) In Attic. c. 28.
b) Laok. p. 121. Die leſſingiſche
Erklaͤrung des διεστρ[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]μμεν[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]ς τ[fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]ς πωδας ſcheint dem Sprach-
gebrauche zu widerſprechen; und wenn es aufs Muth-
maßen ankaͤme, koͤnnte ich eben ſo ſagen: „ſie ſchliefen
„mit uͤber einander geſchlagnen Fuͤßen„ d. i. des einen
Fuß ſtreckte ſich uͤber den andern hin, um die Verwandt-
ſchaft des Schlafs und Todes anzuzeigen u. ſ. w.
F 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0089" n="83"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
der Macht der Go&#x0364;ttin, i&#x017F;t al&#x017F;o hier als Charakter-<lb/>
zug no&#x0364;thig, und zum viel fa&#x017F;&#x017F;enden Eindrucke taug-<lb/>
lich: es erhebt die Scho&#x0364;nheit. Medu&#x017F;e al&#x017F;o dorf-<lb/>
te nicht nothwendig ein Bild der Ha&#x0364;ßlichkeit &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Und die <hi rendition="#fr">Furien</hi> eben &#x017F;o wenig. Die <hi rendition="#fr">Ehr-<lb/>
wu&#x0364;rdigen:</hi> &#x017F;o nannten die Athenien&#x017F;er &#x017F;ie, und &#x017F;o<lb/>
konnten &#x017F;ie die Ku&#x0364;n&#x017F;tler bilden: &#x201E;weder an ihren<lb/>
&#x201E;Bildni&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;agt Pau&#x017F;anias <note place="foot" n="a)"><hi rendition="#aq">In Attic. c.</hi> 28.</note>, noch an den Ab-<lb/>
&#x201E;bildungen der unterirdi&#x017F;chen Go&#x0364;tter, die im Areo-<lb/>
&#x201E;pagus &#x017F;tehen, i&#x017F;t was fu&#x0364;rchterliches wahrzuneh-<lb/>
&#x201E;men.&#x201E; Und wenn nicht an den Furien; an den<lb/>
eigentlichen Rach- und Plagego&#x0364;ttinnen: wenn nicht<lb/>
an den unterirdi&#x017F;chen Go&#x0364;ttern; wenn nicht &#x017F;elb&#x017F;t im<lb/>
Areopagus, dem ern&#x017F;thafte&#x017F;ten Orte zu Athen &#x2014;<lb/>
wo und an welchen Bildungen ha&#x0364;ttte denn das<lb/>
Gra&#x0364;uliche der Hauptcharakter &#x017F;eyn <hi rendition="#fr">mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en?</hi></p><lb/>
          <p>Jch darf al&#x017F;o behaupten, daß alle mythi&#x017F;che<lb/>
Figuren des Zirkels, die als Hauptfiguren, einzeln,<lb/>
ihrem innern und be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Charakter gema&#x0364;ß, ha-<lb/>
ben er&#x017F;cheinen &#x017F;ollen, das Widerliche und Gra&#x0364;ßli-<lb/>
che nie zur nothwendigen Bildung haben <hi rendition="#fr">dorften.</hi><lb/>
Selb&#x017F;t bis auf den Schlaf und den Tod <note place="foot" n="b)">Laok. p. 121. Die le&#x017F;&#x017F;ingi&#x017F;che<lb/>
Erkla&#x0364;rung des &#x03B4;&#x03B9;&#x03B5;&#x03C3;&#x03C4;&#x03C1;<gap reason="fm" unit="chars"/>&#x03BC;&#x03BC;&#x03B5;&#x03BD;<gap reason="fm" unit="chars"/>&#x03C2; &#x03C4;<gap reason="fm" unit="chars"/>&#x03C2; &#x03C0;&#x03C9;&#x03B4;&#x03B1;&#x03C2; &#x017F;cheint dem Sprach-<lb/>
gebrauche zu wider&#x017F;prechen; und wenn es aufs Muth-<lb/>
maßen anka&#x0364;me, ko&#x0364;nnte ich eben &#x017F;o &#x017F;agen: &#x201E;&#x017F;ie &#x017F;chliefen<lb/>
&#x201E;mit u&#x0364;ber einander ge&#x017F;chlagnen Fu&#x0364;ßen&#x201E; d. i. des einen<lb/>
Fuß &#x017F;treckte &#x017F;ich u&#x0364;ber den andern hin, um die Verwandt-<lb/>
&#x017F;chaft des Schlafs und Todes anzuzeigen u. &#x017F;. w.</note> er&#x017F;treckt<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F 2</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0089] Erſtes Waͤldchen. der Macht der Goͤttin, iſt alſo hier als Charakter- zug noͤthig, und zum viel faſſenden Eindrucke taug- lich: es erhebt die Schoͤnheit. Meduſe alſo dorf- te nicht nothwendig ein Bild der Haͤßlichkeit ſeyn. Und die Furien eben ſo wenig. Die Ehr- wuͤrdigen: ſo nannten die Athenienſer ſie, und ſo konnten ſie die Kuͤnſtler bilden: „weder an ihren „Bildniſſen, ſagt Pauſanias a), noch an den Ab- „bildungen der unterirdiſchen Goͤtter, die im Areo- „pagus ſtehen, iſt was fuͤrchterliches wahrzuneh- „men.„ Und wenn nicht an den Furien; an den eigentlichen Rach- und Plagegoͤttinnen: wenn nicht an den unterirdiſchen Goͤttern; wenn nicht ſelbſt im Areopagus, dem ernſthafteſten Orte zu Athen — wo und an welchen Bildungen haͤttte denn das Graͤuliche der Hauptcharakter ſeyn muͤſſen? Jch darf alſo behaupten, daß alle mythiſche Figuren des Zirkels, die als Hauptfiguren, einzeln, ihrem innern und beſtaͤndigen Charakter gemaͤß, ha- ben erſcheinen ſollen, das Widerliche und Graͤßli- che nie zur nothwendigen Bildung haben dorften. Selbſt bis auf den Schlaf und den Tod b) erſtreckt ſich a) In Attic. c. 28. b) Laok. p. 121. Die leſſingiſche Erklaͤrung des διεστρ_ μμεν_ ς τ_ ς πωδας ſcheint dem Sprach- gebrauche zu widerſprechen; und wenn es aufs Muth- maßen ankaͤme, koͤnnte ich eben ſo ſagen: „ſie ſchliefen „mit uͤber einander geſchlagnen Fuͤßen„ d. i. des einen Fuß ſtreckte ſich uͤber den andern hin, um die Verwandt- ſchaft des Schlafs und Todes anzuzeigen u. ſ. w. F 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/89
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/89>, abgerufen am 23.11.2024.