[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. "ste haben: weil zweitens die Empfindung des"Ekels widrig werde, nicht durch die Vorstellung "der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen "Eindrücken, sondern unmittelbar durchs An- "schauen: und weil endlich in dieser Empfindung "die Seele keine merkliche Vermischung von Lust "erkennet. Er schließt also das Ekelhafte ganz "von Nachahmung der schönen Künste, und den "höchsten Grad des Entsetzlichen von der pantomi- "mischen Vorstellung im Trauerspiele aus, weil "theils die Täuschung hierinn schwer wäre, theils "auch die Pantomime auf der tragischen Schau- "bühne nur in den Schranken einer Hülfskunst "bleiben müßte." Jch wollte, daß der philoso- phische D. sich über meinen Vorwurf erklären möch- te: denn der körperliche Schmerz Philoktets hat mehr als einen dieser Gründe wider sich. Seine Täuschung kann nur den dunkelsten Sinn, das thie- rische Mitgefühl, erregen: die Empfindung darüber ist allemal Natur, und niemals Nachahmung: sie hat nichts Angenehmes mit sich: sie ist kaum der Jllusion fähig: sie macht die tragische Bühne zur Pantomime, die, je vollkommner sie wäre, um so mehr zerstreuete. Schlechthin kann also der kör- perliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauer- spiels seyn. Und ists doch bei Sophokles Philoktet, bei ei- "Hr.
Kritiſche Waͤlder. „ſte haben: weil zweitens die Empfindung des„Ekels widrig werde, nicht durch die Vorſtellung „der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen „Eindruͤcken, ſondern unmittelbar durchs An- „ſchauen: und weil endlich in dieſer Empfindung „die Seele keine merkliche Vermiſchung von Luſt „erkennet. Er ſchließt alſo das Ekelhafte ganz „von Nachahmung der ſchoͤnen Kuͤnſte, und den „hoͤchſten Grad des Entſetzlichen von der pantomi- „miſchen Vorſtellung im Trauerſpiele aus, weil „theils die Taͤuſchung hierinn ſchwer waͤre, theils „auch die Pantomime auf der tragiſchen Schau- „buͤhne nur in den Schranken einer Huͤlfskunſt „bleiben muͤßte.„ Jch wollte, daß der philoſo- phiſche D. ſich uͤber meinen Vorwurf erklaͤren moͤch- te: denn der koͤrperliche Schmerz Philoktets hat mehr als einen dieſer Gruͤnde wider ſich. Seine Taͤuſchung kann nur den dunkelſten Sinn, das thie- riſche Mitgefuͤhl, erregen: die Empfindung daruͤber iſt allemal Natur, und niemals Nachahmung: ſie hat nichts Angenehmes mit ſich: ſie iſt kaum der Jlluſion faͤhig: ſie macht die tragiſche Buͤhne zur Pantomime, die, je vollkommner ſie waͤre, um ſo mehr zerſtreuete. Schlechthin kann alſo der koͤr- perliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauer- ſpiels ſeyn. Und iſts doch bei Sophokles Philoktet, bei ei- „Hr.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0074" n="68"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kritiſche Waͤlder.</hi></fw><lb/> „ſte haben: weil zweitens die Empfindung des<lb/> „Ekels widrig werde, nicht durch die Vorſtellung<lb/> „der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen<lb/> „Eindruͤcken, ſondern unmittelbar durchs An-<lb/> „ſchauen: und weil endlich in dieſer Empfindung<lb/> „die Seele keine merkliche Vermiſchung von Luſt<lb/> „erkennet. Er ſchließt alſo das Ekelhafte ganz<lb/> „von Nachahmung der ſchoͤnen Kuͤnſte, und den<lb/> „hoͤchſten Grad des Entſetzlichen von der pantomi-<lb/> „miſchen Vorſtellung im Trauerſpiele aus, weil<lb/> „theils die Taͤuſchung hierinn ſchwer waͤre, theils<lb/> „auch die Pantomime auf der tragiſchen Schau-<lb/> „buͤhne nur in den Schranken einer Huͤlfskunſt<lb/> „bleiben muͤßte.„ Jch wollte, daß der philoſo-<lb/> phiſche D. ſich uͤber meinen Vorwurf erklaͤren moͤch-<lb/> te: denn der koͤrperliche Schmerz Philoktets hat<lb/> mehr als einen dieſer Gruͤnde wider ſich. Seine<lb/> Taͤuſchung kann nur den dunkelſten Sinn, das thie-<lb/> riſche Mitgefuͤhl, erregen: die Empfindung daruͤber<lb/> iſt allemal Natur, und niemals Nachahmung: ſie<lb/> hat nichts Angenehmes mit ſich: ſie iſt kaum der<lb/> Jlluſion faͤhig: ſie macht die tragiſche Buͤhne zur<lb/> Pantomime, die, je vollkommner ſie waͤre, um ſo<lb/> mehr zerſtreuete. Schlechthin kann alſo der koͤr-<lb/> perliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauer-<lb/> ſpiels ſeyn.</p><lb/> <p>Und iſts doch bei Sophokles Philoktet, bei ei-<lb/> nem Meiſterſtuͤcke der Buͤhne! „Wie manches, ſagt<lb/> <fw place="bottom" type="catch">„Hr.</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [68/0074]
Kritiſche Waͤlder.
„ſte haben: weil zweitens die Empfindung des
„Ekels widrig werde, nicht durch die Vorſtellung
„der Wirklichkeit, wie bei andern unangenehmen
„Eindruͤcken, ſondern unmittelbar durchs An-
„ſchauen: und weil endlich in dieſer Empfindung
„die Seele keine merkliche Vermiſchung von Luſt
„erkennet. Er ſchließt alſo das Ekelhafte ganz
„von Nachahmung der ſchoͤnen Kuͤnſte, und den
„hoͤchſten Grad des Entſetzlichen von der pantomi-
„miſchen Vorſtellung im Trauerſpiele aus, weil
„theils die Taͤuſchung hierinn ſchwer waͤre, theils
„auch die Pantomime auf der tragiſchen Schau-
„buͤhne nur in den Schranken einer Huͤlfskunſt
„bleiben muͤßte.„ Jch wollte, daß der philoſo-
phiſche D. ſich uͤber meinen Vorwurf erklaͤren moͤch-
te: denn der koͤrperliche Schmerz Philoktets hat
mehr als einen dieſer Gruͤnde wider ſich. Seine
Taͤuſchung kann nur den dunkelſten Sinn, das thie-
riſche Mitgefuͤhl, erregen: die Empfindung daruͤber
iſt allemal Natur, und niemals Nachahmung: ſie
hat nichts Angenehmes mit ſich: ſie iſt kaum der
Jlluſion faͤhig: ſie macht die tragiſche Buͤhne zur
Pantomime, die, je vollkommner ſie waͤre, um ſo
mehr zerſtreuete. Schlechthin kann alſo der koͤr-
perliche Schmerz keine Hauptidee eines Trauer-
ſpiels ſeyn.
Und iſts doch bei Sophokles Philoktet, bei ei-
nem Meiſterſtuͤcke der Buͤhne! „Wie manches, ſagt
„Hr.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |