Jch kenne kein poetisches Volk der Erde, wel- ches große und sanfte Empfindungen, so sehr in Eine Gesinnung verbunden, und in Einer Seele den Heroismus des Helden- und Menschengefühls so ganz gehabt hätte, als die -- alten Schotten, nach Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Gesänge. Eine sichere Maasgabe, da die Ursprünglichkeit dieser Lie- der bewiesen, und das ganze Leben der Nation be- kannt ist, als ein Leben, das unter Thaten, Em- pfindungen und Gesängen verstrich, und wo die Ge- sänge eben zu nichts bestimmt waren, als diese Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies also vorausgesetzt: und in jedem Bardenliede zeigt sich ein Volk, dessen Seele ganz der Tapferkeit und einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, dessen Denkart überhaupt von einem Heldenernst eine ge- wisse melancholische Farbe erhalten, und diese auch auf seine weichen Empfindungen verbreitete. Die meisten Stücke der hersischen Dichtkunst kann ich nicht besser, als feyerliche Trauergesänge nen- nen, an die nichts im Alterthume, und was diese Seite des Gefühls betrifft, selbst nichts im griechi- schen Alterthume reicht.
Schilricka) scheidet von seiner geliebten Vin- vela: fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er verläßt sie: sie bleibt allein: er wird vielleicht fal- len; aber Vinvela wird sein gedenken. Jch ken-
ne
a) Fragmente der alten Hochschottl. Dichtk. p. 1.
Kritiſche Waͤlder.
Jch kenne kein poetiſches Volk der Erde, wel- ches große und ſanfte Empfindungen, ſo ſehr in Eine Geſinnung verbunden, und in Einer Seele den Heroismus des Helden- und Menſchengefuͤhls ſo ganz gehabt haͤtte, als die — alten Schotten, nach Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Geſaͤnge. Eine ſichere Maasgabe, da die Urſpruͤnglichkeit dieſer Lie- der bewieſen, und das ganze Leben der Nation be- kannt iſt, als ein Leben, das unter Thaten, Em- pfindungen und Geſaͤngen verſtrich, und wo die Ge- ſaͤnge eben zu nichts beſtimmt waren, als dieſe Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies alſo vorausgeſetzt: und in jedem Bardenliede zeigt ſich ein Volk, deſſen Seele ganz der Tapferkeit und einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, deſſen Denkart uͤberhaupt von einem Heldenernſt eine ge- wiſſe melancholiſche Farbe erhalten, und dieſe auch auf ſeine weichen Empfindungen verbreitete. Die meiſten Stuͤcke der herſiſchen Dichtkunſt kann ich nicht beſſer, als feyerliche Trauergeſaͤnge nen- nen, an die nichts im Alterthume, und was dieſe Seite des Gefuͤhls betrifft, ſelbſt nichts im griechi- ſchen Alterthume reicht.
Schilricka) ſcheidet von ſeiner geliebten Vin- vela: fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er verlaͤßt ſie: ſie bleibt allein: er wird vielleicht fal- len; aber Vinvela wird ſein gedenken. Jch ken-
ne
a) Fragmente der alten Hochſchottl. Dichtk. p. 1.
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Kritiſche Waͤlder.
Jch kenne kein poetiſches Volk der Erde, wel-
ches große und ſanfte Empfindungen, ſo ſehr in Eine
Geſinnung verbunden, und in Einer Seele den
Heroismus des Helden- und Menſchengefuͤhls ſo
ganz gehabt haͤtte, als die — alten Schotten, nach
Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Geſaͤnge. Eine
ſichere Maasgabe, da die Urſpruͤnglichkeit dieſer Lie-
der bewieſen, und das ganze Leben der Nation be-
kannt iſt, als ein Leben, das unter Thaten, Em-
pfindungen und Geſaͤngen verſtrich, und wo die Ge-
ſaͤnge eben zu nichts beſtimmt waren, als dieſe
Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies
alſo vorausgeſetzt: und in jedem Bardenliede zeigt
ſich ein Volk, deſſen Seele ganz der Tapferkeit und
einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, deſſen
Denkart uͤberhaupt von einem Heldenernſt eine ge-
wiſſe melancholiſche Farbe erhalten, und dieſe auch
auf ſeine weichen Empfindungen verbreitete. Die
meiſten Stuͤcke der herſiſchen Dichtkunſt kann ich
nicht beſſer, als feyerliche Trauergeſaͤnge nen-
nen, an die nichts im Alterthume, und was dieſe
Seite des Gefuͤhls betrifft, ſelbſt nichts im griechi-
ſchen Alterthume reicht.
Schilrick a) ſcheidet von ſeiner geliebten Vin-
vela: fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er
verlaͤßt ſie: ſie bleibt allein: er wird vielleicht fal-
len; aber Vinvela wird ſein gedenken. Jch ken-
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a) Fragmente der alten Hochſchottl. Dichtk. p. 1.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/44>, abgerufen am 16.02.2025.
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