[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. Verschmerzen, die langen Kämpfe mit dem Wehim Stillen, die endlich mit einer verstohlnen o moi! moi! geschlossen werden; diese dehnen, diese schleichen, und sie sind der Hauptton des ganzen Auftritts. Nun setzen sie noch den dämmerenden Chorus hinzu, der dem entschlafnen Philoktet sein Schlaf-sein Ruhelied, in sanften langsamen Zügen singet, und hier nicht bloß den Akt beschließet, son- dern selbst im Akte ist; denn der schlafende Philoktet lieget dem Zuschauer vor Augen; diesen, sage ich, se- tze man hinzu, und es ist ein langer, ganzer, vollen- deter Akt, der meine Seele füllet: aber nicht durchs Ausstoßen, sondern eben durch das Rückhalten des Ach! Und so kann Winkelmann mit Recht sagen: Laokoon leidet, wie Sophokles Philoktet: nur je- ner, als Bildsäule, bei welcher ein Seufzer ewig dauret, ewig die Brust beklemmet, und dieser als tragische Person, die den langen Seufzer endlich mit einem Ach! schließen, und den wieder kommen- den Schmerz mit einem Ach! empfangen muß, die zwar auf einer Saite des Jammers herum irret, aber mit abgesetzten, mit langsam wiederkommen- den, mit etwas auf- und absteigenden, mit Zwischen- tönen des unterdrückten Schmerzes. Sophokles war also derselbe weise Meister in seinem Philoktet, wie Polydorus in seinem Laokoon, und bei beiden zeigt sich, nur nach der Verschiedenheit ihres Vor- wurfs, einerlei Weisheit, denstillen, den prägnant- sten
Kritiſche Waͤlder. Verſchmerzen, die langen Kaͤmpfe mit dem Wehim Stillen, die endlich mit einer verſtohlnen ω μοι! μοι! geſchloſſen werden; dieſe dehnen, dieſe ſchleichen, und ſie ſind der Hauptton des ganzen Auftritts. Nun ſetzen ſie noch den daͤmmerenden Chorus hinzu, der dem entſchlafnen Philoktet ſein Schlaf-ſein Ruhelied, in ſanften langſamen Zuͤgen ſinget, und hier nicht bloß den Akt beſchließet, ſon- dern ſelbſt im Akte iſt; denn der ſchlafende Philoktet lieget dem Zuſchauer vor Augen; dieſen, ſage ich, ſe- tze man hinzu, und es iſt ein langer, ganzer, vollen- deter Akt, der meine Seele fuͤllet: aber nicht durchs Ausſtoßen, ſondern eben durch das Ruͤckhalten des Ach! Und ſo kann Winkelmann mit Recht ſagen: Laokoon leidet, wie Sophokles Philoktet: nur je- ner, als Bildſaͤule, bei welcher ein Seufzer ewig dauret, ewig die Bruſt beklemmet, und dieſer als tragiſche Perſon, die den langen Seufzer endlich mit einem Ach! ſchließen, und den wieder kommen- den Schmerz mit einem Ach! empfangen muß, die zwar auf einer Saite des Jammers herum irret, aber mit abgeſetzten, mit langſam wiederkommen- den, mit etwas auf- und abſteigenden, mit Zwiſchen- toͤnen des unterdruͤckten Schmerzes. Sophokles war alſo derſelbe weiſe Meiſter in ſeinem Philoktet, wie Polydorus in ſeinem Laokoon, und bei beiden zeigt ſich, nur nach der Verſchiedenheit ihres Vor- wurfs, einerlei Weisheit, denſtillen, den praͤgnant- ſten
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Kritiſche Waͤlder.
Verſchmerzen, die langen Kaͤmpfe mit dem Weh
im Stillen, die endlich mit einer verſtohlnen ω
μοι! μοι! geſchloſſen werden; dieſe dehnen, dieſe
ſchleichen, und ſie ſind der Hauptton des ganzen
Auftritts. Nun ſetzen ſie noch den daͤmmerenden
Chorus hinzu, der dem entſchlafnen Philoktet ſein
Schlaf-ſein Ruhelied, in ſanften langſamen Zuͤgen
ſinget, und hier nicht bloß den Akt beſchließet, ſon-
dern ſelbſt im Akte iſt; denn der ſchlafende Philoktet
lieget dem Zuſchauer vor Augen; dieſen, ſage ich, ſe-
tze man hinzu, und es iſt ein langer, ganzer, vollen-
deter Akt, der meine Seele fuͤllet: aber nicht durchs
Ausſtoßen, ſondern eben durch das Ruͤckhalten des
Ach! Und ſo kann Winkelmann mit Recht ſagen:
Laokoon leidet, wie Sophokles Philoktet: nur je-
ner, als Bildſaͤule, bei welcher ein Seufzer ewig
dauret, ewig die Bruſt beklemmet, und dieſer als
tragiſche Perſon, die den langen Seufzer endlich
mit einem Ach! ſchließen, und den wieder kommen-
den Schmerz mit einem Ach! empfangen muß, die
zwar auf einer Saite des Jammers herum irret,
aber mit abgeſetzten, mit langſam wiederkommen-
den, mit etwas auf- und abſteigenden, mit Zwiſchen-
toͤnen des unterdruͤckten Schmerzes. Sophokles
war alſo derſelbe weiſe Meiſter in ſeinem Philoktet,
wie Polydorus in ſeinem Laokoon, und bei beiden
zeigt ſich, nur nach der Verſchiedenheit ihres Vor-
wurfs, einerlei Weisheit, denſtillen, den praͤgnant-
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