[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. chen Hand zu denken, jedesmal, da sie der Dichternennet. Jch empfinde hierbei nicht so, wie Hr. L. mit Verdrusse die Vergeblichkeit meiner besten An- strengung, so etwas einzeln sehen zu wollen; nach- her aber jedes zusammen zu setzen, mir Alles in Einem, und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit jedem dieser Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei- chenmeister, zu denken -- o die Anstrengung fo- dert ja nicht der Dichter von mir! er führte mich theilweise, zeigte mir in jedem Theile die Schön- heit: da energisirte seine Muse, und warum nicht? da sie kein akademisches Model von Schönheit, das man auf einmal in allen seinen Theilen sehen sollte, zu lie- fern unternahm. Und soll die Dichtkunst keine schöne Gestalt "auf-
Kritiſche Waͤlder. chen Hand zu denken, jedesmal, da ſie der Dichternennet. Jch empfinde hierbei nicht ſo, wie Hr. L. mit Verdruſſe die Vergeblichkeit meiner beſten An- ſtrengung, ſo etwas einzeln ſehen zu wollen; nach- her aber jedes zuſammen zu ſetzen, mir Alles in Einem, und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit jedem dieſer Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei- chenmeiſter, zu denken — o die Anſtrengung fo- dert ja nicht der Dichter von mir! er fuͤhrte mich theilweiſe, zeigte mir in jedem Theile die Schoͤn- heit: da energiſirte ſeine Muſe, und warum nicht? da ſie kein akademiſches Model von Schoͤnheit, das man auf einmal in allen ſeinen Theilen ſehen ſollte, zu lie- fern unternahm. Und ſoll die Dichtkunſt keine ſchoͤne Geſtalt „auf-
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Kritiſche Waͤlder.
chen Hand zu denken, jedesmal, da ſie der Dichter
nennet. Jch empfinde hierbei nicht ſo, wie Hr. L.
mit Verdruſſe die Vergeblichkeit meiner beſten An-
ſtrengung, ſo etwas einzeln ſehen zu wollen; nach-
her aber jedes zuſammen zu ſetzen, mir Alles in Einem,
und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit
jedem dieſer Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei-
chenmeiſter, zu denken — o die Anſtrengung fo-
dert ja nicht der Dichter von mir! er fuͤhrte mich
theilweiſe, zeigte mir in jedem Theile die Schoͤn-
heit: da energiſirte ſeine Muſe, und warum nicht? da
ſie kein akademiſches Model von Schoͤnheit, das man
auf einmal in allen ſeinen Theilen ſehen ſollte, zu lie-
fern unternahm.
Und ſoll die Dichtkunſt keine ſchoͤne Geſtalt
ſchildern, weil ihre Theile coexſiſtent ſind; ſo ſollte Ho-
mer auch keine haͤßliche Geſtalt, keinen Therſites ge-
ſchildert haben, weil ihre Mißtheile eben ſo coexſi-
ſtent ſind, und auch coexſiſtent gedacht werden muͤſ-
ſen, wenn ein Bild der Haͤßlichkeit werden ſoll. Leſ-
ſing hat Homer durch ſein Gewebe von kritiſchen
Regeln ſelbſt verwickelt, und nun will er mit ihm
hinaus, wo er kaum durchkommt. „Eben weil die
„Haͤßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu
„einer minder widerwaͤrtigen Erſcheinung koͤrperli-
„cher Unvollkommenheiten wird, und gleichſam,
„von der Seite ihrer Wirkung, Haͤßlichkeit zu ſeyn
„auf-
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