Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
chen Hand zu denken, jedesmal, da sie der Dichter
nennet. Jch empfinde hierbei nicht so, wie Hr. L.
mit Verdrusse die Vergeblichkeit meiner besten An-
strengung, so etwas einzeln sehen zu wollen; nach-
her aber jedes zusammen zu setzen, mir Alles in Einem,
und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit
jedem dieser Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei-
chenmeister, zu denken -- o die Anstrengung fo-
dert ja nicht der Dichter von mir! er führte mich
theilweise, zeigte mir in jedem Theile die Schön-
heit: da energisirte seine Muse, und warum nicht? da
sie kein akademisches Model von Schönheit, das man
auf einmal in allen seinen Theilen sehen sollte, zu lie-
fern unternahm.

Und soll die Dichtkunst keine schöne Gestalt
schildern, weil ihre Theile coexsistent sind; so sollte Ho-
mer auch keine häßliche Gestalt, keinen Thersites ge-
schildert haben, weil ihre Mißtheile eben so coexsi-
stent sind, und auch coexsistent gedacht werden müs-
sen, wenn ein Bild der Häßlichkeit werden soll. Les-
sing hat Homer durch sein Gewebe von kritischen
Regeln selbst verwickelt, und nun will er mit ihm
hinaus, wo er kaum durchkommt. "Eben weil die
"Häßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu
"einer minder widerwärtigen Erscheinung körperli-
"cher Unvollkommenheiten wird, und gleichsam,
"von der Seite ihrer Wirkung, Häßlichkeit zu seyn

"auf-

Kritiſche Waͤlder.
chen Hand zu denken, jedesmal, da ſie der Dichter
nennet. Jch empfinde hierbei nicht ſo, wie Hr. L.
mit Verdruſſe die Vergeblichkeit meiner beſten An-
ſtrengung, ſo etwas einzeln ſehen zu wollen; nach-
her aber jedes zuſammen zu ſetzen, mir Alles in Einem,
und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit
jedem dieſer Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei-
chenmeiſter, zu denken — o die Anſtrengung fo-
dert ja nicht der Dichter von mir! er fuͤhrte mich
theilweiſe, zeigte mir in jedem Theile die Schoͤn-
heit: da energiſirte ſeine Muſe, und warum nicht? da
ſie kein akademiſches Model von Schoͤnheit, das man
auf einmal in allen ſeinen Theilen ſehen ſollte, zu lie-
fern unternahm.

Und ſoll die Dichtkunſt keine ſchoͤne Geſtalt
ſchildern, weil ihre Theile coexſiſtent ſind; ſo ſollte Ho-
mer auch keine haͤßliche Geſtalt, keinen Therſites ge-
ſchildert haben, weil ihre Mißtheile eben ſo coexſi-
ſtent ſind, und auch coexſiſtent gedacht werden muͤſ-
ſen, wenn ein Bild der Haͤßlichkeit werden ſoll. Leſ-
ſing hat Homer durch ſein Gewebe von kritiſchen
Regeln ſelbſt verwickelt, und nun will er mit ihm
hinaus, wo er kaum durchkommt. „Eben weil die
„Haͤßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu
„einer minder widerwaͤrtigen Erſcheinung koͤrperli-
„cher Unvollkommenheiten wird, und gleichſam,
„von der Seite ihrer Wirkung, Haͤßlichkeit zu ſeyn

„auf-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0248" n="242"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
chen Hand zu denken, jedesmal, da &#x017F;ie der Dichter<lb/>
nennet. Jch empfinde hierbei nicht &#x017F;o, wie Hr. L.<lb/>
mit Verdru&#x017F;&#x017F;e die Vergeblichkeit meiner be&#x017F;ten An-<lb/>
&#x017F;trengung, &#x017F;o etwas einzeln &#x017F;ehen zu wollen; nach-<lb/>
her aber jedes zu&#x017F;ammen zu &#x017F;etzen, mir Alles in Einem,<lb/>
und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit<lb/>
jedem die&#x017F;er Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei-<lb/>
chenmei&#x017F;ter, zu denken &#x2014; o die An&#x017F;trengung fo-<lb/>
dert ja nicht der Dichter von mir! er fu&#x0364;hrte mich<lb/>
theilwei&#x017F;e, zeigte mir in jedem Theile die Scho&#x0364;n-<lb/>
heit: da energi&#x017F;irte &#x017F;eine Mu&#x017F;e, und warum nicht? da<lb/>
&#x017F;ie kein akademi&#x017F;ches Model von Scho&#x0364;nheit, das man<lb/>
auf einmal in allen &#x017F;einen Theilen &#x017F;ehen &#x017F;ollte, zu lie-<lb/>
fern unternahm.</p><lb/>
          <p>Und &#x017F;oll die Dichtkun&#x017F;t keine &#x017F;cho&#x0364;ne Ge&#x017F;talt<lb/>
&#x017F;childern, weil ihre Theile coex&#x017F;i&#x017F;tent &#x017F;ind; &#x017F;o &#x017F;ollte Ho-<lb/>
mer auch keine ha&#x0364;ßliche Ge&#x017F;talt, keinen Ther&#x017F;ites ge-<lb/>
&#x017F;childert haben, weil ihre Mißtheile eben &#x017F;o coex&#x017F;i-<lb/>
&#x017F;tent &#x017F;ind, und auch coex&#x017F;i&#x017F;tent gedacht werden mu&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, wenn ein Bild der Ha&#x0364;ßlichkeit werden &#x017F;oll. Le&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ing hat Homer durch &#x017F;ein Gewebe von kriti&#x017F;chen<lb/>
Regeln &#x017F;elb&#x017F;t verwickelt, und nun will er mit ihm<lb/>
hinaus, wo er kaum durchkommt. &#x201E;Eben weil die<lb/>
&#x201E;Ha&#x0364;ßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu<lb/>
&#x201E;einer minder widerwa&#x0364;rtigen Er&#x017F;cheinung ko&#x0364;rperli-<lb/>
&#x201E;cher Unvollkommenheiten wird, und gleich&#x017F;am,<lb/>
&#x201E;von der Seite ihrer Wirkung, Ha&#x0364;ßlichkeit zu &#x017F;eyn<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;auf-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0248] Kritiſche Waͤlder. chen Hand zu denken, jedesmal, da ſie der Dichter nennet. Jch empfinde hierbei nicht ſo, wie Hr. L. mit Verdruſſe die Vergeblichkeit meiner beſten An- ſtrengung, ſo etwas einzeln ſehen zu wollen; nach- her aber jedes zuſammen zu ſetzen, mir Alles in Einem, und Eins in Allem zu denken, die Alcina mir mit jedem dieſer Theile im Ganzen, deutlich, wie ein Zei- chenmeiſter, zu denken — o die Anſtrengung fo- dert ja nicht der Dichter von mir! er fuͤhrte mich theilweiſe, zeigte mir in jedem Theile die Schoͤn- heit: da energiſirte ſeine Muſe, und warum nicht? da ſie kein akademiſches Model von Schoͤnheit, das man auf einmal in allen ſeinen Theilen ſehen ſollte, zu lie- fern unternahm. Und ſoll die Dichtkunſt keine ſchoͤne Geſtalt ſchildern, weil ihre Theile coexſiſtent ſind; ſo ſollte Ho- mer auch keine haͤßliche Geſtalt, keinen Therſites ge- ſchildert haben, weil ihre Mißtheile eben ſo coexſi- ſtent ſind, und auch coexſiſtent gedacht werden muͤſ- ſen, wenn ein Bild der Haͤßlichkeit werden ſoll. Leſ- ſing hat Homer durch ſein Gewebe von kritiſchen Regeln ſelbſt verwickelt, und nun will er mit ihm hinaus, wo er kaum durchkommt. „Eben weil die „Haͤßlichkeit in der Schilderung des Dichters zu „einer minder widerwaͤrtigen Erſcheinung koͤrperli- „cher Unvollkommenheiten wird, und gleichſam, „von der Seite ihrer Wirkung, Haͤßlichkeit zu ſeyn „auf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/248
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/248>, abgerufen am 23.11.2024.