untern Seelenkräfte, vorzüglich die Phantasie. Da nun die Handlung der Phantasie immer ein An- schauen genannt werden mag; so kann auch die Poe- sie, so fern sie derselben einen Begriff, ein Bild an- schauend macht, füglich eine Malerinn für die Phan- tasie genannt werden: und jedes Ganze Eines Ge- dichts, ist das Ganze Eines Kunstwerks.
Nur da die Malerei ein Werk hervorbringt, das während der Arbeit noch Nichts, nach der Vol- lendung Alles ist, und zwar in dem Ganzen des Anblicks Alles: so ist die Poesie Energisch, das ist, während ihrer Arbeit muß die Seele schon alles empfinden; nicht wenn die Energie geendigt ist, erst zu empfinden anfangen, und erst durch Recapi- tulation der Successionen empfinden wollen. Habe ich also eine ganze Schilderung der Schönheit hin- durch nichts empfunden: so wird mir der letzte An- blick nichts gewähren. --
Malerei will das Auge täuschen: Poesie aber die Phantasie -- nur wieder nicht werkmäßig, daß ich in der Beschreibung das Ding erkenne; sondern bei jeder Vorstellung es zu dem Zwecke sehe, zu dem es mir der Dichter vorführet. Die Art der Täuschung ist also bei jeder Gedichtart verschieden, bei allen Gemälden nur zwiefach: entweder täu- schende Schönheit, oder täuschende Wahrheit. Aus diesem Zwecke muß also das Werk der Kunst und die Energie des Dichters geschätzt werden.
Der
Kritiſche Waͤlder.
untern Seelenkraͤfte, vorzuͤglich die Phantaſie. Da nun die Handlung der Phantaſie immer ein An- ſchauen genannt werden mag; ſo kann auch die Poe- ſie, ſo fern ſie derſelben einen Begriff, ein Bild an- ſchauend macht, fuͤglich eine Malerinn fuͤr die Phan- taſie genannt werden: und jedes Ganze Eines Ge- dichts, iſt das Ganze Eines Kunſtwerks.
Nur da die Malerei ein Werk hervorbringt, das waͤhrend der Arbeit noch Nichts, nach der Vol- lendung Alles iſt, und zwar in dem Ganzen des Anblicks Alles: ſo iſt die Poeſie Energiſch, das iſt, waͤhrend ihrer Arbeit muß die Seele ſchon alles empfinden; nicht wenn die Energie geendigt iſt, erſt zu empfinden anfangen, und erſt durch Recapi- tulation der Succeſſionen empfinden wollen. Habe ich alſo eine ganze Schilderung der Schoͤnheit hin- durch nichts empfunden: ſo wird mir der letzte An- blick nichts gewaͤhren. —
Malerei will das Auge taͤuſchen: Poeſie aber die Phantaſie — nur wieder nicht werkmaͤßig, daß ich in der Beſchreibung das Ding erkenne; ſondern bei jeder Vorſtellung es zu dem Zwecke ſehe, zu dem es mir der Dichter vorfuͤhret. Die Art der Taͤuſchung iſt alſo bei jeder Gedichtart verſchieden, bei allen Gemaͤlden nur zwiefach: entweder taͤu- ſchende Schoͤnheit, oder taͤuſchende Wahrheit. Aus dieſem Zwecke muß alſo das Werk der Kunſt und die Energie des Dichters geſchaͤtzt werden.
Der
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Kritiſche Waͤlder.
untern Seelenkraͤfte, vorzuͤglich die Phantaſie. Da
nun die Handlung der Phantaſie immer ein An-
ſchauen genannt werden mag; ſo kann auch die Poe-
ſie, ſo fern ſie derſelben einen Begriff, ein Bild an-
ſchauend macht, fuͤglich eine Malerinn fuͤr die Phan-
taſie genannt werden: und jedes Ganze Eines Ge-
dichts, iſt das Ganze Eines Kunſtwerks.
Nur da die Malerei ein Werk hervorbringt,
das waͤhrend der Arbeit noch Nichts, nach der Vol-
lendung Alles iſt, und zwar in dem Ganzen des
Anblicks Alles: ſo iſt die Poeſie Energiſch, das iſt,
waͤhrend ihrer Arbeit muß die Seele ſchon alles
empfinden; nicht wenn die Energie geendigt iſt,
erſt zu empfinden anfangen, und erſt durch Recapi-
tulation der Succeſſionen empfinden wollen. Habe
ich alſo eine ganze Schilderung der Schoͤnheit hin-
durch nichts empfunden: ſo wird mir der letzte An-
blick nichts gewaͤhren. —
Malerei will das Auge taͤuſchen: Poeſie aber
die Phantaſie — nur wieder nicht werkmaͤßig, daß
ich in der Beſchreibung das Ding erkenne; ſondern
bei jeder Vorſtellung es zu dem Zwecke ſehe, zu
dem es mir der Dichter vorfuͤhret. Die Art der
Taͤuſchung iſt alſo bei jeder Gedichtart verſchieden,
bei allen Gemaͤlden nur zwiefach: entweder taͤu-
ſchende Schoͤnheit, oder taͤuſchende Wahrheit. Aus
dieſem Zwecke muß alſo das Werk der Kunſt und
die Energie des Dichters geſchaͤtzt werden.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/238>, abgerufen am 17.02.2025.
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