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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
men: der weiß nicht, was Handlung des Gedichts
sey, an dem hat Homer seine Energie verfehlet.
Wenn Homer ein körperliches Bild braucht, so
schildert ers, wenn es auch ein Thersites seyn sollte;
er weiß von keinen Kunstgriffen, von keiner poeti-
schen List und Gefährde: Fortschreitung ist die See-
le seines Epos.

18.

Nun aber ist Homer auch nicht der einzige
Dichter: es gab bald nach ihm einen Tyrtäus, Ana-
kreon, Pindarus, Aeschylus u. s. w. Sein epos,
seine fortgehende Erzälung, verwandelte sich mehr
und mehr in ein melos, in ein Gesangartiges, und
drauf in ein eidos, in ein Gemälde; Gattungen,
die noch aber immer Poesie blieben. Ein Sänger,
(melopoios) und ein lyrischer Maler (eidopoios)
Anakreon und Pindar, stehe also gegen den
Geschichtsdichter (epopoios) Homer.

Homer dichtet erzälend: "es geschah! es
"ward!" bei ihm kann also alles Handlung seyn,
und muß zur Handlung eilen. Hierhin strebt
die Energie seiner Muse: wunderbare, rührende
Begebenheiten sind seine Welt: er hat das Schöp-
fungswort: "es ward!" Anakreon schwebt zwischen
Gesang und Erzälung: seine Erzälung wird ein Lied-
chen, sein Liedchen ein epos des Liebesgottes. Er
kann also seine Wendung: "es war!" oder "ich

"will"

Erſtes Waͤldchen.
men: der weiß nicht, was Handlung des Gedichts
ſey, an dem hat Homer ſeine Energie verfehlet.
Wenn Homer ein koͤrperliches Bild braucht, ſo
ſchildert ers, wenn es auch ein Therſites ſeyn ſollte;
er weiß von keinen Kunſtgriffen, von keiner poeti-
ſchen Liſt und Gefaͤhrde: Fortſchreitung iſt die See-
le ſeines Epos.

18.

Nun aber iſt Homer auch nicht der einzige
Dichter: es gab bald nach ihm einen Tyrtaͤus, Ana-
kreon, Pindarus, Aeſchylus u. ſ. w. Sein επος,
ſeine fortgehende Erzaͤlung, verwandelte ſich mehr
und mehr in ein μελὸς, in ein Geſangartiges, und
drauf in ein ειδος, in ein Gemaͤlde; Gattungen,
die noch aber immer Poeſie blieben. Ein Saͤnger,
(μελοποιος) und ein lyriſcher Maler (ειδοποιος)
Anakreon und Pindar, ſtehe alſo gegen den
Geſchichtsdichter (εποποιος) Homer.

Homer dichtet erzaͤlend: „es geſchah! es
„ward!„ bei ihm kann alſo alles Handlung ſeyn,
und muß zur Handlung eilen. Hierhin ſtrebt
die Energie ſeiner Muſe: wunderbare, ruͤhrende
Begebenheiten ſind ſeine Welt: er hat das Schoͤp-
fungswort: „es ward!„ Anakreon ſchwebt zwiſchen
Geſang und Erzaͤlung: ſeine Erzaͤlung wird ein Lied-
chen, ſein Liedchen ein επος des Liebesgottes. Er
kann alſo ſeine Wendung: „es war!„ oder „ich

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[223/0229] Erſtes Waͤldchen. men: der weiß nicht, was Handlung des Gedichts ſey, an dem hat Homer ſeine Energie verfehlet. Wenn Homer ein koͤrperliches Bild braucht, ſo ſchildert ers, wenn es auch ein Therſites ſeyn ſollte; er weiß von keinen Kunſtgriffen, von keiner poeti- ſchen Liſt und Gefaͤhrde: Fortſchreitung iſt die See- le ſeines Epos. 18. Nun aber iſt Homer auch nicht der einzige Dichter: es gab bald nach ihm einen Tyrtaͤus, Ana- kreon, Pindarus, Aeſchylus u. ſ. w. Sein επος, ſeine fortgehende Erzaͤlung, verwandelte ſich mehr und mehr in ein μελὸς, in ein Geſangartiges, und drauf in ein ειδος, in ein Gemaͤlde; Gattungen, die noch aber immer Poeſie blieben. Ein Saͤnger, (μελοποιος) und ein lyriſcher Maler (ειδοποιος) Anakreon und Pindar, ſtehe alſo gegen den Geſchichtsdichter (εποποιος) Homer. Homer dichtet erzaͤlend: „es geſchah! es „ward!„ bei ihm kann alſo alles Handlung ſeyn, und muß zur Handlung eilen. Hierhin ſtrebt die Energie ſeiner Muſe: wunderbare, ruͤhrende Begebenheiten ſind ſeine Welt: er hat das Schoͤp- fungswort: „es ward!„ Anakreon ſchwebt zwiſchen Geſang und Erzaͤlung: ſeine Erzaͤlung wird ein Lied- chen, ſein Liedchen ein επος des Liebesgottes. Er kann alſo ſeine Wendung: „es war!„ oder „ich „will„

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/229>, abgerufen am 23.11.2024.