[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. Zephyrs, der freilich von einer andern Lalage, (derSchönheit des Dichters) kommen konnte. Jm Gefühl also dieser bildenden und nicht dichtenden Schönheit stand er auch vor Virgils Laokoon, wie vor dem Lao- koon des Polydorus, und so muß er gelesen werden: denn das sind Schranken der menschlichen Natur, auf einmal nur eines sehen zu können, was man will, und wie man will -- Dieß eine war bei Winkel- mann die Kunst. Soll ich ihm also Kenntniß der Alten absprechen, weil er Homer nicht als Dich- ter, sondern als Künstler, nicht also des poetischen Wesens seiner Muse wegen, nicht wie Leßing gele- sen? Soll ich ihm einen Seitenblick, den er auf die Poesie wirft, um seine Ku st zu erläutern, und ge- setzt dieser Seitenblick träfe auch nicht auf das Jn- nere der Dichtkunst, zum Hauptverbrechen anrech- nen? Und soll ich, weil Leßing wiederum alles aus dem Grunde der Seele holt, soll ich ihn für einen spekulativen Witzling, und wenn er einigemal mit sei- nen muntern Schlüssen zu weit käme, für einen ra- thenden Kopf halten? Warum können wir denn nicht zween so originale Denker, Winkelmann und Leßing nehmen, wie jeder ist? Auch in der Schreibart so gar haben beide eine griechische Grazie zur Freun- din; nur daß sie bei beiden nicht Eine Grazie ist. Winkelmanns Styl ist wie ein Kunstwerk der vollen-
Erſtes Waͤldchen. Zephyrs, der freilich von einer andern Lalage, (derSchoͤnheit des Dichters) kommen konnte. Jm Gefuͤhl alſo dieſer bildenden und nicht dichtenden Schoͤnheit ſtand er auch vor Virgils Laokoon, wie vor dem Lao- koon des Polydorus, und ſo muß er geleſen werden: denn das ſind Schranken der menſchlichen Natur, auf einmal nur eines ſehen zu koͤnnen, was man will, und wie man will — Dieß eine war bei Winkel- mann die Kunſt. Soll ich ihm alſo Kenntniß der Alten abſprechen, weil er Homer nicht als Dich- ter, ſondern als Kuͤnſtler, nicht alſo des poetiſchen Weſens ſeiner Muſe wegen, nicht wie Leßing gele- ſen? Soll ich ihm einen Seitenblick, den er auf die Poeſie wirft, um ſeine Ku ſt zu erlaͤutern, und ge- ſetzt dieſer Seitenblick traͤfe auch nicht auf das Jn- nere der Dichtkunſt, zum Hauptverbrechen anrech- nen? Und ſoll ich, weil Leßing wiederum alles aus dem Grunde der Seele holt, ſoll ich ihn fuͤr einen ſpekulativen Witzling, und wenn er einigemal mit ſei- nen muntern Schluͤſſen zu weit kaͤme, fuͤr einen ra- thenden Kopf halten? Warum koͤnnen wir denn nicht zween ſo originale Denker, Winkelmann und Leßing nehmen, wie jeder iſt? Auch in der Schreibart ſo gar haben beide eine griechiſche Grazie zur Freun- din; nur daß ſie bei beiden nicht Eine Grazie iſt. Winkelmanns Styl iſt wie ein Kunſtwerk der vollen-
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Erſtes Waͤldchen.
Zephyrs, der freilich von einer andern Lalage, (der
Schoͤnheit des Dichters) kommen konnte. Jm Gefuͤhl
alſo dieſer bildenden und nicht dichtenden Schoͤnheit
ſtand er auch vor Virgils Laokoon, wie vor dem Lao-
koon des Polydorus, und ſo muß er geleſen werden:
denn das ſind Schranken der menſchlichen Natur,
auf einmal nur eines ſehen zu koͤnnen, was man will,
und wie man will — Dieß eine war bei Winkel-
mann die Kunſt. Soll ich ihm alſo Kenntniß
der Alten abſprechen, weil er Homer nicht als Dich-
ter, ſondern als Kuͤnſtler, nicht alſo des poetiſchen
Weſens ſeiner Muſe wegen, nicht wie Leßing gele-
ſen? Soll ich ihm einen Seitenblick, den er auf die
Poeſie wirft, um ſeine Ku ſt zu erlaͤutern, und ge-
ſetzt dieſer Seitenblick traͤfe auch nicht auf das Jn-
nere der Dichtkunſt, zum Hauptverbrechen anrech-
nen? Und ſoll ich, weil Leßing wiederum alles aus
dem Grunde der Seele holt, ſoll ich ihn fuͤr einen
ſpekulativen Witzling, und wenn er einigemal mit ſei-
nen muntern Schluͤſſen zu weit kaͤme, fuͤr einen ra-
thenden Kopf halten? Warum koͤnnen wir denn
nicht zween ſo originale Denker, Winkelmann und
Leßing nehmen, wie jeder iſt? Auch in der Schreibart
ſo gar haben beide eine griechiſche Grazie zur Freun-
din; nur daß ſie bei beiden nicht Eine Grazie iſt.
Winkelmanns Styl iſt wie ein Kunſtwerk der
Alten. Gebildet in allen Theilen, tritt jeder Gedan-
ke hervor, und ſtehet da, edel, einfaͤltig, erhaben,
vollen-
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