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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.

So wie Er gerne in seiner Schöpfung zwischen
Himmel und Erde bleibt a): so überspannet er auch
nie gern die Phantasie in dem Maaße der Größe.
Wo ein Zug hierüber nöthig war, ward er einge-
streuet, und gelindert.

Jnsonderheit unter Menschen gelindert: denn
zu einem Göttertreffen b), und einem Götterhimmel,
ist schon eine kleine Ueberspannung zum Wunderba-
ren moron seiner Götter nothwendig. Wer kann
etwas schildern, das er nie gesehen, das er blos durch
Menschenerhöhung trifft?

Und auch hier ists für mich kein Axiom, "daß
"der Dichter seinen Göttern eine Größe gegeben,
"die alle natürliche Maaße weit übersteiget." Denn
Homer hat bei dem Unendlichen selbst lauter natür-
liche Maaße, und auch deßwegen unter tausend an-
dern Ursachen ist er mein Dichter.

Ob endlich die Bildhauer das Kolossalische, das
sie ihren Götterstatuen öfters ertheilten, aus Homer
entlehnt? c) -- Diese Frage dünkt mich so, als jene
indianische: worauf ruht die Erde? auf einem Ele-
phanten! und worauf der Elephant? -- Von wem
nämlich mag denn Homer das Kolossalische entlehnt
haben, das er, hie und da, diesem und jenem Gotte
giebt? Mich dünkt, man könne in Aegypten den
Ursprung von diesen und mehreren homerischen

Jdeen
a) Iliad. Th. 13-16.
b) Iliad. G. 385 --
c) Laok. p. 136.
M 4
Erſtes Waͤldchen.

So wie Er gerne in ſeiner Schoͤpfung zwiſchen
Himmel und Erde bleibt a): ſo uͤberſpannet er auch
nie gern die Phantaſie in dem Maaße der Groͤße.
Wo ein Zug hieruͤber noͤthig war, ward er einge-
ſtreuet, und gelindert.

Jnſonderheit unter Menſchen gelindert: denn
zu einem Goͤttertreffen b), und einem Goͤtterhimmel,
iſt ſchon eine kleine Ueberſpannung zum Wunderba-
ren μωρον ſeiner Goͤtter nothwendig. Wer kann
etwas ſchildern, das er nie geſehen, das er blos durch
Menſchenerhoͤhung trifft?

Und auch hier iſts fuͤr mich kein Axiom, „daß
„der Dichter ſeinen Goͤttern eine Groͤße gegeben,
„die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſteiget.„ Denn
Homer hat bei dem Unendlichen ſelbſt lauter natuͤr-
liche Maaße, und auch deßwegen unter tauſend an-
dern Urſachen iſt er mein Dichter.

Ob endlich die Bildhauer das Koloſſaliſche, das
ſie ihren Goͤtterſtatuen oͤfters ertheilten, aus Homer
entlehnt? c) — Dieſe Frage duͤnkt mich ſo, als jene
indianiſche: worauf ruht die Erde? auf einem Ele-
phanten! und worauf der Elephant? — Von wem
naͤmlich mag denn Homer das Koloſſaliſche entlehnt
haben, das er, hie und da, dieſem und jenem Gotte
giebt? Mich duͤnkt, man koͤnne in Aegypten den
Urſprung von dieſen und mehreren homeriſchen

Jdeen
a) Iliad. Θ. 13-16.
b) Iliad. Γ. 385 —
c) Laok. p. 136.
M 4
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[183/0189] Erſtes Waͤldchen. So wie Er gerne in ſeiner Schoͤpfung zwiſchen Himmel und Erde bleibt a): ſo uͤberſpannet er auch nie gern die Phantaſie in dem Maaße der Groͤße. Wo ein Zug hieruͤber noͤthig war, ward er einge- ſtreuet, und gelindert. Jnſonderheit unter Menſchen gelindert: denn zu einem Goͤttertreffen b), und einem Goͤtterhimmel, iſt ſchon eine kleine Ueberſpannung zum Wunderba- ren μωρον ſeiner Goͤtter nothwendig. Wer kann etwas ſchildern, das er nie geſehen, das er blos durch Menſchenerhoͤhung trifft? Und auch hier iſts fuͤr mich kein Axiom, „daß „der Dichter ſeinen Goͤttern eine Groͤße gegeben, „die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſteiget.„ Denn Homer hat bei dem Unendlichen ſelbſt lauter natuͤr- liche Maaße, und auch deßwegen unter tauſend an- dern Urſachen iſt er mein Dichter. Ob endlich die Bildhauer das Koloſſaliſche, das ſie ihren Goͤtterſtatuen oͤfters ertheilten, aus Homer entlehnt? c) — Dieſe Frage duͤnkt mich ſo, als jene indianiſche: worauf ruht die Erde? auf einem Ele- phanten! und worauf der Elephant? — Von wem naͤmlich mag denn Homer das Koloſſaliſche entlehnt haben, das er, hie und da, dieſem und jenem Gotte giebt? Mich duͤnkt, man koͤnne in Aegypten den Urſprung von dieſen und mehreren homeriſchen Jdeen a) Iliad. Θ. 13-16. b) Iliad. Γ. 385 — c) Laok. p. 136. M 4

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/189>, abgerufen am 28.11.2024.