"Göttinn nicht so offenbar eine körperliche Größe gab, "die alle natürliche Maaße weit überstiege."
Bei seiner Venus wäre diese noch von üblerer Wirkung. Wenn sie ihm die das süße Lachen lie- bende Göttinn a) ist: wo bleibt das süße Lachen im Riesengesichte eines Weibes? Der Mund möge sich auch nur zum Lächeln verziehen wollen: die Lippen sich auch nur von fern dazu regen; der sich verzie- hende Mund dünkt mich Verzerrung, das sich mel- dende Lachen wird Grimasse, und das ausbrechende Lachen ungeheures Gelächter. Und wie ungereimt dünkt mich alsdenn diese Riesengestalt, wenn sie über eine Ritzung ihrer Haut am Finger schreiet, klaget, weinet, und den ganzen Himmel erreget!
Kurz! wo Größe und Stärke nicht das Haupt- stück im Charakter einer Gottheit ausmacht, da ist die übermenschliche Natur auch nicht ein nothwendiges Augenmerk? Wo der Charak- ter der Gottheit damit aber gar nicht bestehen kann, z. E. die höchste Vollkommenheit eines weib- lichen Gliederbaues in der Juno, und die liebreizend- ste Schönheit in der Tochter Dionens: da bleibe sie unsern Augen weg. Diese können, als mensch- liche Augen, das Jdeal der hohen sowohl als der lieblichen Schönheit eines menschlich scheinenden Kör- pers, nicht anders, als mit natürlichem Maaße be- stimmen: zwar mit dem Unterschiede, daß in der
Male-
a) philommeides Aphrodite.
Kritiſche Waͤlder.
„Goͤttinn nicht ſo offenbar eine koͤrperliche Groͤße gab, „die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſtiege.„
Bei ſeiner Venus waͤre dieſe noch von uͤblerer Wirkung. Wenn ſie ihm die das ſuͤße Lachen lie- bende Goͤttinn a) iſt: wo bleibt das ſuͤße Lachen im Rieſengeſichte eines Weibes? Der Mund moͤge ſich auch nur zum Laͤcheln verziehen wollen: die Lippen ſich auch nur von fern dazu regen; der ſich verzie- hende Mund duͤnkt mich Verzerrung, das ſich mel- dende Lachen wird Grimaſſe, und das ausbrechende Lachen ungeheures Gelaͤchter. Und wie ungereimt duͤnkt mich alsdenn dieſe Rieſengeſtalt, wenn ſie uͤber eine Ritzung ihrer Haut am Finger ſchreiet, klaget, weinet, und den ganzen Himmel erreget!
Kurz! wo Groͤße und Staͤrke nicht das Haupt- ſtuͤck im Charakter einer Gottheit ausmacht, da iſt die uͤbermenſchliche Natur auch nicht ein nothwendiges Augenmerk? Wo der Charak- ter der Gottheit damit aber gar nicht beſtehen kann, z. E. die hoͤchſte Vollkommenheit eines weib- lichen Gliederbaues in der Juno, und die liebreizend- ſte Schoͤnheit in der Tochter Dionens: da bleibe ſie unſern Augen weg. Dieſe koͤnnen, als menſch- liche Augen, das Jdeal der hohen ſowohl als der lieblichen Schoͤnheit eines menſchlich ſcheinenden Koͤr- pers, nicht anders, als mit natuͤrlichem Maaße be- ſtimmen: zwar mit dem Unterſchiede, daß in der
Male-
a) φιλομμειδης Αφροδιτη.
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Kritiſche Waͤlder.
„Goͤttinn nicht ſo offenbar eine koͤrperliche Groͤße gab,
„die alle natuͤrliche Maaße weit uͤberſtiege.„
Bei ſeiner Venus waͤre dieſe noch von uͤblerer
Wirkung. Wenn ſie ihm die das ſuͤße Lachen lie-
bende Goͤttinn a) iſt: wo bleibt das ſuͤße Lachen im
Rieſengeſichte eines Weibes? Der Mund moͤge ſich
auch nur zum Laͤcheln verziehen wollen: die Lippen
ſich auch nur von fern dazu regen; der ſich verzie-
hende Mund duͤnkt mich Verzerrung, das ſich mel-
dende Lachen wird Grimaſſe, und das ausbrechende
Lachen ungeheures Gelaͤchter. Und wie ungereimt
duͤnkt mich alsdenn dieſe Rieſengeſtalt, wenn ſie
uͤber eine Ritzung ihrer Haut am Finger ſchreiet,
klaget, weinet, und den ganzen Himmel erreget!
Kurz! wo Groͤße und Staͤrke nicht das Haupt-
ſtuͤck im Charakter einer Gottheit ausmacht,
da iſt die uͤbermenſchliche Natur auch nicht ein
nothwendiges Augenmerk? Wo der Charak-
ter der Gottheit damit aber gar nicht beſtehen
kann, z. E. die hoͤchſte Vollkommenheit eines weib-
lichen Gliederbaues in der Juno, und die liebreizend-
ſte Schoͤnheit in der Tochter Dionens: da bleibe
ſie unſern Augen weg. Dieſe koͤnnen, als menſch-
liche Augen, das Jdeal der hohen ſowohl als der
lieblichen Schoͤnheit eines menſchlich ſcheinenden Koͤr-
pers, nicht anders, als mit natuͤrlichem Maaße be-
ſtimmen: zwar mit dem Unterſchiede, daß in der
Male-
a) φιλομμειδης Αφροδιτη.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/180>, abgerufen am 16.07.2024.
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