Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
Götter, von ihren mystischen Erscheinungen, von
dem Ueberirdischen ihrer Epiphanien u. s. w. zu ver-
nünfteln; allein solche Theophanien, solche seine
Metaphysik über die Natur der Götter, gehört in den
Kreis der spätern Platonisten und Pythagoräer, und
in das heilige Murmeln ihrer Geheimnisse. Jch
denke doch aber, daß wir hier nicht über Jamblichus,
sondern Homer, reden.

-- Kurz! ich bin mit der Ursache zufrieden, daß,
wenn der Maler mit seiner Wolke nicht unsichtbar
machen kann, er auch dem Dichter die Wolke nicht
nachäffen darf: und was brauchts da weitere Alle-
gorien und Deutungen über den Dichter, unter de-
nen der Dichter verlohren geht? Nach meinem Ge-
fühle gebührt den griechischen Göttern die schönste
Sichtbarkeit und Jugend als ein Prädikat ihres
Wesens: und ohne solche sich einen Apollo, einen
Bacchus, einen Jupiter denken zu sollen, sich die
Unsichtbarkeit als den natürlichen Zustand der Göt-
ter vorstellen zu müssen -- das kann keine griechi-
sche Seele: kein griechischer Dichter und Künstler,
ja selbst kein weiser Epikur. Mit dem Begriffe
schöner Sichtbarkeit geht das Wesen der Götter, das
Leben ihrer Geschichte und Thaten, die so genau be-
stimmten Stuffen ihrer Jdealgestalten, das An-
ziehliche ihres Umganges mit Menschenkindern: das
ganze Kraftvolle der Mythologie verlohren. Jch
sehe nicht mehr die schönen sinnlichen griechischen

Göt-

Kritiſche Waͤlder.
Goͤtter, von ihren myſtiſchen Erſcheinungen, von
dem Ueberirdiſchen ihrer Epiphanien u. ſ. w. zu ver-
nuͤnfteln; allein ſolche Theophanien, ſolche ſeine
Metaphyſik uͤber die Natur der Goͤtter, gehoͤrt in den
Kreis der ſpaͤtern Platoniſten und Pythagoraͤer, und
in das heilige Murmeln ihrer Geheimniſſe. Jch
denke doch aber, daß wir hier nicht uͤber Jamblichus,
ſondern Homer, reden.

— Kurz! ich bin mit der Urſache zufrieden, daß,
wenn der Maler mit ſeiner Wolke nicht unſichtbar
machen kann, er auch dem Dichter die Wolke nicht
nachaͤffen darf: und was brauchts da weitere Alle-
gorien und Deutungen uͤber den Dichter, unter de-
nen der Dichter verlohren geht? Nach meinem Ge-
fuͤhle gebuͤhrt den griechiſchen Goͤttern die ſchoͤnſte
Sichtbarkeit und Jugend als ein Praͤdikat ihres
Weſens: und ohne ſolche ſich einen Apollo, einen
Bacchus, einen Jupiter denken zu ſollen, ſich die
Unſichtbarkeit als den natuͤrlichen Zuſtand der Goͤt-
ter vorſtellen zu muͤſſen — das kann keine griechi-
ſche Seele: kein griechiſcher Dichter und Kuͤnſtler,
ja ſelbſt kein weiſer Epikur. Mit dem Begriffe
ſchoͤner Sichtbarkeit geht das Weſen der Goͤtter, das
Leben ihrer Geſchichte und Thaten, die ſo genau be-
ſtimmten Stuffen ihrer Jdealgeſtalten, das An-
ziehliche ihres Umganges mit Menſchenkindern: das
ganze Kraftvolle der Mythologie verlohren. Jch
ſehe nicht mehr die ſchoͤnen ſinnlichen griechiſchen

Goͤt-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0174" n="168"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
Go&#x0364;tter, von ihren my&#x017F;ti&#x017F;chen Er&#x017F;cheinungen, von<lb/>
dem Ueberirdi&#x017F;chen ihrer Epiphanien u. &#x017F;. w. zu ver-<lb/>
nu&#x0364;nfteln; allein &#x017F;olche Theophanien, &#x017F;olche &#x017F;eine<lb/>
Metaphy&#x017F;ik u&#x0364;ber die Natur der Go&#x0364;tter, geho&#x0364;rt in den<lb/>
Kreis der &#x017F;pa&#x0364;tern Platoni&#x017F;ten und Pythagora&#x0364;er, und<lb/>
in das heilige Murmeln ihrer Geheimni&#x017F;&#x017F;e. Jch<lb/>
denke doch aber, daß wir hier nicht u&#x0364;ber Jamblichus,<lb/>
&#x017F;ondern Homer, reden.</p><lb/>
          <p>&#x2014; Kurz! ich bin mit <hi rendition="#fr">der Ur&#x017F;ache</hi> zufrieden, daß,<lb/>
wenn der Maler mit &#x017F;einer Wolke nicht un&#x017F;ichtbar<lb/>
machen kann, er auch dem Dichter die Wolke nicht<lb/>
nacha&#x0364;ffen darf: und was brauchts da weitere Alle-<lb/>
gorien und Deutungen u&#x0364;ber den Dichter, unter de-<lb/>
nen der Dichter verlohren geht? Nach meinem Ge-<lb/>
fu&#x0364;hle gebu&#x0364;hrt den griechi&#x017F;chen Go&#x0364;ttern die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te<lb/>
Sichtbarkeit und Jugend als ein Pra&#x0364;dikat ihres<lb/>
We&#x017F;ens: und ohne &#x017F;olche &#x017F;ich einen Apollo, einen<lb/>
Bacchus, einen Jupiter denken zu &#x017F;ollen, &#x017F;ich die<lb/>
Un&#x017F;ichtbarkeit als den natu&#x0364;rlichen Zu&#x017F;tand der Go&#x0364;t-<lb/>
ter vor&#x017F;tellen zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x2014; das kann keine griechi-<lb/>
&#x017F;che Seele: kein griechi&#x017F;cher Dichter und Ku&#x0364;n&#x017F;tler,<lb/>
ja &#x017F;elb&#x017F;t kein wei&#x017F;er Epikur. Mit dem Begriffe<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ner Sichtbarkeit geht das We&#x017F;en der Go&#x0364;tter, das<lb/>
Leben ihrer Ge&#x017F;chichte und Thaten, die &#x017F;o genau be-<lb/>
&#x017F;timmten Stuffen ihrer Jdealge&#x017F;talten, das An-<lb/>
ziehliche ihres Umganges mit Men&#x017F;chenkindern: das<lb/>
ganze Kraftvolle der Mythologie verlohren. Jch<lb/>
&#x017F;ehe nicht mehr die &#x017F;cho&#x0364;nen &#x017F;innlichen griechi&#x017F;chen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Go&#x0364;t-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0174] Kritiſche Waͤlder. Goͤtter, von ihren myſtiſchen Erſcheinungen, von dem Ueberirdiſchen ihrer Epiphanien u. ſ. w. zu ver- nuͤnfteln; allein ſolche Theophanien, ſolche ſeine Metaphyſik uͤber die Natur der Goͤtter, gehoͤrt in den Kreis der ſpaͤtern Platoniſten und Pythagoraͤer, und in das heilige Murmeln ihrer Geheimniſſe. Jch denke doch aber, daß wir hier nicht uͤber Jamblichus, ſondern Homer, reden. — Kurz! ich bin mit der Urſache zufrieden, daß, wenn der Maler mit ſeiner Wolke nicht unſichtbar machen kann, er auch dem Dichter die Wolke nicht nachaͤffen darf: und was brauchts da weitere Alle- gorien und Deutungen uͤber den Dichter, unter de- nen der Dichter verlohren geht? Nach meinem Ge- fuͤhle gebuͤhrt den griechiſchen Goͤttern die ſchoͤnſte Sichtbarkeit und Jugend als ein Praͤdikat ihres Weſens: und ohne ſolche ſich einen Apollo, einen Bacchus, einen Jupiter denken zu ſollen, ſich die Unſichtbarkeit als den natuͤrlichen Zuſtand der Goͤt- ter vorſtellen zu muͤſſen — das kann keine griechi- ſche Seele: kein griechiſcher Dichter und Kuͤnſtler, ja ſelbſt kein weiſer Epikur. Mit dem Begriffe ſchoͤner Sichtbarkeit geht das Weſen der Goͤtter, das Leben ihrer Geſchichte und Thaten, die ſo genau be- ſtimmten Stuffen ihrer Jdealgeſtalten, das An- ziehliche ihres Umganges mit Menſchenkindern: das ganze Kraftvolle der Mythologie verlohren. Jch ſehe nicht mehr die ſchoͤnen ſinnlichen griechiſchen Goͤt-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/174
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/174>, abgerufen am 29.11.2024.