Vehikulum sollen sie kennbar, nicht sichtbar werden.
Nun aber falle das Vehikulum weg, lasset sie blos Götter seyn: die Wunde, der Schmerz bleibt ihnen, er ist nicht mit der Gestalt weggefallen, in der sie sich menschlich verkörpert. Mars schreit auf -- verläßt die Schlacht, und geht himmelauf: die Gestalt des Acamas ist also weg, und sehet da! die Wolkenhülle ist um ihn: mit Wolken gehet er zum Himmel a). Und noch in seiner himmlischen Gestalt fühlt er den Schmerz, den ihm ein Mensch zufügen konnte? ist die Wunde nicht der Gestalt Acamas geblieben? sie gehört Mars: der himmli- sche Arzt muß sie heilen; sein göttlicher Körper war seiner Natur nach also verwundbar, wie also eben seiner Natur nach nicht sichtbar? oder gar nicht an- ders als unsichtbar?
Nein! mein Homer ist viel zu sinnlich, als daß er sein ganzes Gedicht durch von so geistigen Göt- tern, und von so feinen Allegorien, was die Wolke hie und da bedeutet? wissen sollte. Einem persi- schen Epopöisten würde eine solche innere Unsichtbar- keit der Götter gefallen haben; allein ein griechisches Auge will in der Epopee auch an Gottheiten schöne Körper und himmlische Gestalten erblicken: es will sie schon ihrer Natur nach in dieser schönen Sicht- barkeit sehen, und nicht erst durch ein Wunder, oder
durch
a)Iliad. E. 867.
Kritiſche Waͤlder.
Vehikulum ſollen ſie kennbar, nicht ſichtbar werden.
Nun aber falle das Vehikulum weg, laſſet ſie blos Goͤtter ſeyn: die Wunde, der Schmerz bleibt ihnen, er iſt nicht mit der Geſtalt weggefallen, in der ſie ſich menſchlich verkoͤrpert. Mars ſchreit auf — verlaͤßt die Schlacht, und geht himmelauf: die Geſtalt des Acamas iſt alſo weg, und ſehet da! die Wolkenhuͤlle iſt um ihn: mit Wolken gehet er zum Himmel a). Und noch in ſeiner himmliſchen Geſtalt fuͤhlt er den Schmerz, den ihm ein Menſch zufuͤgen konnte? iſt die Wunde nicht der Geſtalt Acamas geblieben? ſie gehoͤrt Mars: der himmli- ſche Arzt muß ſie heilen; ſein goͤttlicher Koͤrper war ſeiner Natur nach alſo verwundbar, wie alſo eben ſeiner Natur nach nicht ſichtbar? oder gar nicht an- ders als unſichtbar?
Nein! mein Homer iſt viel zu ſinnlich, als daß er ſein ganzes Gedicht durch von ſo geiſtigen Goͤt- tern, und von ſo feinen Allegorien, was die Wolke hie und da bedeutet? wiſſen ſollte. Einem perſi- ſchen Epopoͤiſten wuͤrde eine ſolche innere Unſichtbar- keit der Goͤtter gefallen haben; allein ein griechiſches Auge will in der Epopee auch an Gottheiten ſchoͤne Koͤrper und himmliſche Geſtalten erblicken: es will ſie ſchon ihrer Natur nach in dieſer ſchoͤnen Sicht- barkeit ſehen, und nicht erſt durch ein Wunder, oder
durch
a)Iliad. Ε. 867.
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Kritiſche Waͤlder.
Vehikulum ſollen ſie kennbar, nicht ſichtbar
werden.
Nun aber falle das Vehikulum weg, laſſet ſie
blos Goͤtter ſeyn: die Wunde, der Schmerz bleibt
ihnen, er iſt nicht mit der Geſtalt weggefallen, in
der ſie ſich menſchlich verkoͤrpert. Mars ſchreit auf
— verlaͤßt die Schlacht, und geht himmelauf: die
Geſtalt des Acamas iſt alſo weg, und ſehet da!
die Wolkenhuͤlle iſt um ihn: mit Wolken gehet er
zum Himmel a). Und noch in ſeiner himmliſchen
Geſtalt fuͤhlt er den Schmerz, den ihm ein Menſch
zufuͤgen konnte? iſt die Wunde nicht der Geſtalt
Acamas geblieben? ſie gehoͤrt Mars: der himmli-
ſche Arzt muß ſie heilen; ſein goͤttlicher Koͤrper war
ſeiner Natur nach alſo verwundbar, wie alſo eben
ſeiner Natur nach nicht ſichtbar? oder gar nicht an-
ders als unſichtbar?
Nein! mein Homer iſt viel zu ſinnlich, als daß
er ſein ganzes Gedicht durch von ſo geiſtigen Goͤt-
tern, und von ſo feinen Allegorien, was die Wolke
hie und da bedeutet? wiſſen ſollte. Einem perſi-
ſchen Epopoͤiſten wuͤrde eine ſolche innere Unſichtbar-
keit der Goͤtter gefallen haben; allein ein griechiſches
Auge will in der Epopee auch an Gottheiten ſchoͤne
Koͤrper und himmliſche Geſtalten erblicken: es will
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durch
a) Iliad. Ε. 867.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/172>, abgerufen am 16.07.2024.
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