Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
"anstatt des entrückten Körpers einen Nebel gese-
"hen, sondern weil wir das, was in einem Nebel
"ist, unsichtbar denken." Welche Unterscheidun-
gen! welche Amphibolien! "Keinen wirklichen
"Nebel sahe Achilles nicht." Ja! der poetische
Held sahe ihn, und dreimal stieß er noch mit seinem
Spieße nach dem Nebel. "Das Kunststück, wo-
"mit die Götter unsichtbar machten, bestand in der
"schnellen Entrückung!" Wunderbar! wo ich mir
schon wirksame Götter, eine wunderbare Entrückung
denken kann, und denke; bin ich da nicht ein Scru-
pler, am Nebel abdingen zu wollen? "Nur weil die
"Entrückung schnell vorgieng, hüllt ihn der Dichter
"ein; nicht, weil man einen Nebel gesehen, sondern,
"weil wir das, was in einem Nebel ist, unsichtbar
"denken." So! und deßwegen stößt Achilles
dreimal nach dem Nebel, nicht, weil er einen Nebel
sahe, sondern, weil er das, was in einem Nebel ist,
sich als unsichtbar dachte! O der homerische Don-
Quixote! o der cervantische Homer!

"Neptun verfinstert die Augen Achilles; in
"der That aber sind des Achilles Augen nicht ver-
"finstert, sondern -- --" Was man uns doch
sagen will! Neptun gießt dem Achilles Dunkel um
die Augen, er rückt Aeneas fort: er hat ihn in Si-
cherheit gebracht, ihn ermahnt, nicht wider Achil-
les zu streiten, ihn verlassen -- nun muß er erst
zurück kommen, um dem Achilles den Nebel

von

Erſtes Waͤldchen.
„anſtatt des entruͤckten Koͤrpers einen Nebel geſe-
„hen, ſondern weil wir das, was in einem Nebel
„iſt, unſichtbar denken.„ Welche Unterſcheidun-
gen! welche Amphibolien! „Keinen wirklichen
„Nebel ſahe Achilles nicht.„ Ja! der poetiſche
Held ſahe ihn, und dreimal ſtieß er noch mit ſeinem
Spieße nach dem Nebel. „Das Kunſtſtuͤck, wo-
„mit die Goͤtter unſichtbar machten, beſtand in der
„ſchnellen Entruͤckung!„ Wunderbar! wo ich mir
ſchon wirkſame Goͤtter, eine wunderbare Entruͤckung
denken kann, und denke; bin ich da nicht ein Scru-
pler, am Nebel abdingen zu wollen? „Nur weil die
„Entruͤckung ſchnell vorgieng, huͤllt ihn der Dichter
„ein; nicht, weil man einen Nebel geſehen, ſondern,
„weil wir das, was in einem Nebel iſt, unſichtbar
„denken.„ So! und deßwegen ſtoͤßt Achilles
dreimal nach dem Nebel, nicht, weil er einen Nebel
ſahe, ſondern, weil er das, was in einem Nebel iſt,
ſich als unſichtbar dachte! O der homeriſche Don-
Quixote! o der cervantiſche Homer!

„Neptun verfinſtert die Augen Achilles; in
„der That aber ſind des Achilles Augen nicht ver-
„finſtert, ſondern — —„ Was man uns doch
ſagen will! Neptun gießt dem Achilles Dunkel um
die Augen, er ruͤckt Aeneas fort: er hat ihn in Si-
cherheit gebracht, ihn ermahnt, nicht wider Achil-
les zu ſtreiten, ihn verlaſſen — nun muß er erſt
zuruͤck kommen, um dem Achilles den Nebel

von
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0163" n="157"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
&#x201E;an&#x017F;tatt des entru&#x0364;ckten Ko&#x0364;rpers einen Nebel ge&#x017F;e-<lb/>
&#x201E;hen, &#x017F;ondern weil wir das, was in einem Nebel<lb/>
&#x201E;i&#x017F;t, un&#x017F;ichtbar denken.&#x201E; Welche Unter&#x017F;cheidun-<lb/>
gen! welche Amphibolien! &#x201E;Keinen wirklichen<lb/>
&#x201E;Nebel &#x017F;ahe Achilles nicht.&#x201E; Ja! der poeti&#x017F;che<lb/>
Held &#x017F;ahe ihn, und dreimal &#x017F;tieß er noch mit &#x017F;einem<lb/>
Spieße nach dem Nebel. &#x201E;Das Kun&#x017F;t&#x017F;tu&#x0364;ck, wo-<lb/>
&#x201E;mit die Go&#x0364;tter un&#x017F;ichtbar machten, be&#x017F;tand in der<lb/>
&#x201E;&#x017F;chnellen Entru&#x0364;ckung!&#x201E; Wunderbar! wo ich mir<lb/>
&#x017F;chon wirk&#x017F;ame Go&#x0364;tter, eine wunderbare Entru&#x0364;ckung<lb/>
denken kann, und denke; bin ich da nicht ein Scru-<lb/>
pler, am Nebel abdingen zu wollen? &#x201E;Nur weil die<lb/>
&#x201E;Entru&#x0364;ckung &#x017F;chnell vorgieng, hu&#x0364;llt ihn der Dichter<lb/>
&#x201E;ein; nicht, weil man einen Nebel ge&#x017F;ehen, &#x017F;ondern,<lb/>
&#x201E;weil wir das, was in einem Nebel i&#x017F;t, un&#x017F;ichtbar<lb/>
&#x201E;denken.&#x201E; So! und deßwegen &#x017F;to&#x0364;ßt Achilles<lb/>
dreimal nach dem Nebel, nicht, weil er einen Nebel<lb/>
&#x017F;ahe, &#x017F;ondern, weil er das, was in einem Nebel i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;ich als un&#x017F;ichtbar dachte! O der homeri&#x017F;che Don-<lb/>
Quixote! o der cervanti&#x017F;che Homer!</p><lb/>
          <p>&#x201E;Neptun verfin&#x017F;tert die Augen Achilles; in<lb/>
&#x201E;der That aber &#x017F;ind des Achilles Augen nicht ver-<lb/>
&#x201E;fin&#x017F;tert, &#x017F;ondern &#x2014; &#x2014;&#x201E; Was man uns doch<lb/>
&#x017F;agen will! Neptun gießt dem Achilles Dunkel um<lb/>
die Augen, er ru&#x0364;ckt Aeneas fort: er hat ihn in Si-<lb/>
cherheit gebracht, ihn ermahnt, nicht wider Achil-<lb/>
les zu &#x017F;treiten, ihn verla&#x017F;&#x017F;en &#x2014; nun muß er <hi rendition="#fr">er&#x017F;t<lb/>
zuru&#x0364;ck kommen, um dem Achilles den Nebel</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">von</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0163] Erſtes Waͤldchen. „anſtatt des entruͤckten Koͤrpers einen Nebel geſe- „hen, ſondern weil wir das, was in einem Nebel „iſt, unſichtbar denken.„ Welche Unterſcheidun- gen! welche Amphibolien! „Keinen wirklichen „Nebel ſahe Achilles nicht.„ Ja! der poetiſche Held ſahe ihn, und dreimal ſtieß er noch mit ſeinem Spieße nach dem Nebel. „Das Kunſtſtuͤck, wo- „mit die Goͤtter unſichtbar machten, beſtand in der „ſchnellen Entruͤckung!„ Wunderbar! wo ich mir ſchon wirkſame Goͤtter, eine wunderbare Entruͤckung denken kann, und denke; bin ich da nicht ein Scru- pler, am Nebel abdingen zu wollen? „Nur weil die „Entruͤckung ſchnell vorgieng, huͤllt ihn der Dichter „ein; nicht, weil man einen Nebel geſehen, ſondern, „weil wir das, was in einem Nebel iſt, unſichtbar „denken.„ So! und deßwegen ſtoͤßt Achilles dreimal nach dem Nebel, nicht, weil er einen Nebel ſahe, ſondern, weil er das, was in einem Nebel iſt, ſich als unſichtbar dachte! O der homeriſche Don- Quixote! o der cervantiſche Homer! „Neptun verfinſtert die Augen Achilles; in „der That aber ſind des Achilles Augen nicht ver- „finſtert, ſondern — —„ Was man uns doch ſagen will! Neptun gießt dem Achilles Dunkel um die Augen, er ruͤckt Aeneas fort: er hat ihn in Si- cherheit gebracht, ihn ermahnt, nicht wider Achil- les zu ſtreiten, ihn verlaſſen — nun muß er erſt zuruͤck kommen, um dem Achilles den Nebel von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/163
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/163>, abgerufen am 27.11.2024.