heitskünstlern des Styls bleiben: ich will den Lao- koon als eine Sammlung von Materialien, als einen Zusammenschuß von Collektaneen betrachten -- auch als solcher allein, verdient er Betrachtung gnug.
Die Kunstrichter unsrer Zeit, eine Heerde der kleinen Geschöpfe, die Apollo Smintheus jetzt scheint auf unser liebes Vaterland gebannet zu ha- ben, um auch die wenigen blumen- und frucht- reichen Auen zu verwüsten, die noch hie und da als Ländereyen des Genies übrig geblieben -- diese Boten Apollo haben meistens Laokoon nicht besser zu loben gewußt, als auf Winkelmanns Kosten; denn welch ein Lob fließt von den Lippen großer Leute wohl glatter herunter, als das auf Kosten eines dritten? Leßing soll Winkelmannen so viel unverzeihliche Fehler gezeigt, ihn philosophiren gelehrt, ihn die Grenzen und das Wesen der Kunst gewiesen, und insonderheit in seinen Schriften das aufgedeckt ha- ben, daß seine Kenntniß der Alten ein schwankender Grund sey. Wäre das nicht viel? Einem Win- kelmann, ihm, der sich so ganz nach den Alten gebil- det, der in Griechenland lebet und webet, der in den Alten Kunstkenntniß, bis zum Erstaunen, zeiget, dem Homer, wie er selbst schreibet, täglich sein an- dächtiges Morgengebet gewesen, -- diesem Mann zeigen, daß er Homer nicht gelesen, daß er die Grie- chen nicht kenne: warum? weil sie Leßing kennet, weil Leßing Homer gelesen! Noch ärger, daß Win-
kel-
Kritiſche Waͤlder.
heitskuͤnſtlern des Styls bleiben: ich will den Lao- koon als eine Sammlung von Materialien, als einen Zuſammenſchuß von Collektaneen betrachten — auch als ſolcher allein, verdient er Betrachtung gnug.
Die Kunſtrichter unſrer Zeit, eine Heerde der kleinen Geſchoͤpfe, die Apollo Smintheus jetzt ſcheint auf unſer liebes Vaterland gebannet zu ha- ben, um auch die wenigen blumen- und frucht- reichen Auen zu verwuͤſten, die noch hie und da als Laͤndereyen des Genies uͤbrig geblieben — dieſe Boten Apollo haben meiſtens Laokoon nicht beſſer zu loben gewußt, als auf Winkelmanns Koſten; denn welch ein Lob fließt von den Lippen großer Leute wohl glatter herunter, als das auf Koſten eines dritten? Leßing ſoll Winkelmannen ſo viel unverzeihliche Fehler gezeigt, ihn philoſophiren gelehrt, ihn die Grenzen und das Weſen der Kunſt gewieſen, und inſonderheit in ſeinen Schriften das aufgedeckt ha- ben, daß ſeine Kenntniß der Alten ein ſchwankender Grund ſey. Waͤre das nicht viel? Einem Win- kelmann, ihm, der ſich ſo ganz nach den Alten gebil- det, der in Griechenland lebet und webet, der in den Alten Kunſtkenntniß, bis zum Erſtaunen, zeiget, dem Homer, wie er ſelbſt ſchreibet, taͤglich ſein an- daͤchtiges Morgengebet geweſen, — dieſem Mann zeigen, daß er Homer nicht geleſen, daß er die Grie- chen nicht kenne: warum? weil ſie Leßing kennet, weil Leßing Homer geleſen! Noch aͤrger, daß Win-
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Kritiſche Waͤlder.
heitskuͤnſtlern des Styls bleiben: ich will den Lao-
koon als eine Sammlung von Materialien, als einen
Zuſammenſchuß von Collektaneen betrachten — auch
als ſolcher allein, verdient er Betrachtung gnug.
Die Kunſtrichter unſrer Zeit, eine Heerde der
kleinen Geſchoͤpfe, die Apollo Smintheus jetzt
ſcheint auf unſer liebes Vaterland gebannet zu ha-
ben, um auch die wenigen blumen- und frucht-
reichen Auen zu verwuͤſten, die noch hie und da als
Laͤndereyen des Genies uͤbrig geblieben — dieſe
Boten Apollo haben meiſtens Laokoon nicht beſſer zu
loben gewußt, als auf Winkelmanns Koſten; denn
welch ein Lob fließt von den Lippen großer Leute wohl
glatter herunter, als das auf Koſten eines dritten?
Leßing ſoll Winkelmannen ſo viel unverzeihliche
Fehler gezeigt, ihn philoſophiren gelehrt, ihn die
Grenzen und das Weſen der Kunſt gewieſen, und
inſonderheit in ſeinen Schriften das aufgedeckt ha-
ben, daß ſeine Kenntniß der Alten ein ſchwankender
Grund ſey. Waͤre das nicht viel? Einem Win-
kelmann, ihm, der ſich ſo ganz nach den Alten gebil-
det, der in Griechenland lebet und webet, der in den
Alten Kunſtkenntniß, bis zum Erſtaunen, zeiget,
dem Homer, wie er ſelbſt ſchreibet, taͤglich ſein an-
daͤchtiges Morgengebet geweſen, — dieſem Mann
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weil Leßing Homer geleſen! Noch aͤrger, daß Win-
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/14>, abgerufen am 16.02.2025.
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