[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. Untersuchung dieses Widerspruchs sehr fein ist. EineVenus, meint er, die ihrem Sohne die Waffen giebt, könne freilich gebildet werden: denn hier bliebe sie noch eine Göttinn der Liebe: ihr könne noch alle An- muth und Schönheit gegeben werden, die ihr als Göttinn der Liebe zukomme: sie werde vielmehr als solche, durch diese Handlung noch kennbarer; aber eine zürnende, eine verachtende Venus ganz und gar nicht. -- Jch bin in der Ausdehnung dieses Un- terschiedes nicht Hr. Lessings Meinung. Götter und geistige Wesen sind dem Künstler Kinnes
Kritiſche Waͤlder. Unterſuchung dieſes Widerſpruchs ſehr fein iſt. EineVenus, meint er, die ihrem Sohne die Waffen giebt, koͤnne freilich gebildet werden: denn hier bliebe ſie noch eine Goͤttinn der Liebe: ihr koͤnne noch alle An- muth und Schoͤnheit gegeben werden, die ihr als Goͤttinn der Liebe zukomme: ſie werde vielmehr als ſolche, durch dieſe Handlung noch kennbarer; aber eine zuͤrnende, eine verachtende Venus ganz und gar nicht. — Jch bin in der Ausdehnung dieſes Un- terſchiedes nicht Hr. Leſſings Meinung. Goͤtter und geiſtige Weſen ſind dem Kuͤnſtler Kinnes
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Kritiſche Waͤlder.
Unterſuchung dieſes Widerſpruchs ſehr fein iſt. Eine
Venus, meint er, die ihrem Sohne die Waffen giebt,
koͤnne freilich gebildet werden: denn hier bliebe ſie
noch eine Goͤttinn der Liebe: ihr koͤnne noch alle An-
muth und Schoͤnheit gegeben werden, die ihr als
Goͤttinn der Liebe zukomme: ſie werde vielmehr als
ſolche, durch dieſe Handlung noch kennbarer; aber
eine zuͤrnende, eine verachtende Venus ganz und gar
nicht. — Jch bin in der Ausdehnung dieſes Un-
terſchiedes nicht Hr. Leſſings Meinung.
Goͤtter und geiſtige Weſen ſind dem Kuͤnſtler
freilich perſoniſirte Abſtrakta, und Charakterfiguren,
ſo lange er ſie allein, blos in einem ihnen gemaͤßen
Anſtande, oder hoͤchſtens in einer intranſitiven Hand-
lung bilden ſoll; aber alsdann ſind ſie es nur aus
Noth, aus Muß, um kenntlich zu ſeyn. Venus,
Juno, Minerva haben dieſe und keine andre Bil-
dung der Schoͤnheit, nicht als wenn dieſe immer
ein innerer Charakterzug ihres abſtrakten Weſens
waͤre; gnug, daß ſie ein von Dichtern einmal be-
liebtes und veſtgeſetztes aͤußeres Kennzeichen die-
ſer Gottheit iſt. Jch verſtehe mich nicht gnug auf
den abſtrakten Begriff der Liebe, als daß ich wiſſen
koͤnnte, ob jede Kleinigkeit bei der Bildung der
Venus, und keiner andern goͤttlichen Schoͤnheit, da
ſey, weil ſie nothwendig das Abſtraktum der Liebe
charakteriſire? ob z. E. das υγρον ihrer Augen, und
das Laͤcheln ihrer Wangen, und das Gruͤbchen ihres
Kinnes
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