Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Wäldchen.
mit dem Diodor von Sicilien bei Hand, seinen
Sethos, und andre einen Roman voll Geographie,
oder wahrer Geschichte. Sollte sich nun nicht Pe-
tron auch zu dieser Klasse bekennen? Sehr wahr-
scheinlich und eben von dieser Vermischung der
Wahrheit und der Erdichtung, der Geschichte und
Phantasie rührt auch die große Verschiedenheit des
Urtheils, welches die Kunstrichter über Petron von
jeher gefällt. Seine Einbildungskraft ist spielend,
trocken, gezwungen; und die Kinder, die sie hervor
bringt, haben den Charakter ihrer Mutter; aber
sein Urtheil, die oft eingeschalteten historischen Zü-
ge über den verderbten Zeitgeschmack, sind fein,
sind lobwürdig. Mir wirds also sehr glaublich,
daß Petron, der mit Gewalt ein Dichter seyn woll-
te, seine Beschreibung Laokoons, durch die Nachah-
mung eines wirklichen Gemäldes, wohl habe auf-
stutzen wollen: daß das Gemälde von Laokoon wohl
irgend wo anders, als in der Phantasie Petrons
exsistirt habe. Und wenn es exsistirt hätte? --
Nun! so treffen auch Hr. L. kritische Streiche auf
Petron diesmal einen Unrechten, und sein Arkanum;
den Styl eines Nachahmers zu entdecken, kann ihm
diesmal unzuverläßig werden. Hat Petron ein Ge-
mälde geschildert: was eher, als daß sein Auge an
Nebenideen hangen blieb, daß er diese Nebenideen
auch übertreiben konnte? Jsts, daß er im Bilde
das Geräusch der Schlangen gleichsam zu hören

glaub-
G 4

Erſtes Waͤldchen.
mit dem Diodor von Sicilien bei Hand, ſeinen
Sethos, und andre einen Roman voll Geographie,
oder wahrer Geſchichte. Sollte ſich nun nicht Pe-
tron auch zu dieſer Klaſſe bekennen? Sehr wahr-
ſcheinlich und eben von dieſer Vermiſchung der
Wahrheit und der Erdichtung, der Geſchichte und
Phantaſie ruͤhrt auch die große Verſchiedenheit des
Urtheils, welches die Kunſtrichter uͤber Petron von
jeher gefaͤllt. Seine Einbildungskraft iſt ſpielend,
trocken, gezwungen; und die Kinder, die ſie hervor
bringt, haben den Charakter ihrer Mutter; aber
ſein Urtheil, die oft eingeſchalteten hiſtoriſchen Zuͤ-
ge uͤber den verderbten Zeitgeſchmack, ſind fein,
ſind lobwuͤrdig. Mir wirds alſo ſehr glaublich,
daß Petron, der mit Gewalt ein Dichter ſeyn woll-
te, ſeine Beſchreibung Laokoons, durch die Nachah-
mung eines wirklichen Gemaͤldes, wohl habe auf-
ſtutzen wollen: daß das Gemaͤlde von Laokoon wohl
irgend wo anders, als in der Phantaſie Petrons
exſiſtirt habe. Und wenn es exſiſtirt haͤtte? —
Nun! ſo treffen auch Hr. L. kritiſche Streiche auf
Petron diesmal einen Unrechten, und ſein Arkanum;
den Styl eines Nachahmers zu entdecken, kann ihm
diesmal unzuverlaͤßig werden. Hat Petron ein Ge-
maͤlde geſchildert: was eher, als daß ſein Auge an
Nebenideen hangen blieb, daß er dieſe Nebenideen
auch uͤbertreiben konnte? Jſts, daß er im Bilde
das Geraͤuſch der Schlangen gleichſam zu hoͤren

glaub-
G 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0109" n="103"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Wa&#x0364;ldchen.</hi></fw><lb/>
mit dem Diodor von Sicilien bei Hand, &#x017F;einen<lb/>
Sethos, und andre einen Roman voll Geographie,<lb/>
oder wahrer Ge&#x017F;chichte. Sollte &#x017F;ich nun nicht Pe-<lb/>
tron auch zu die&#x017F;er Kla&#x017F;&#x017F;e bekennen? Sehr wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich und eben von die&#x017F;er Vermi&#x017F;chung der<lb/>
Wahrheit und der Erdichtung, der Ge&#x017F;chichte und<lb/>
Phanta&#x017F;ie ru&#x0364;hrt auch die große Ver&#x017F;chiedenheit des<lb/>
Urtheils, welches die Kun&#x017F;trichter u&#x0364;ber Petron von<lb/>
jeher gefa&#x0364;llt. Seine Einbildungskraft i&#x017F;t &#x017F;pielend,<lb/>
trocken, gezwungen; und die Kinder, die &#x017F;ie hervor<lb/>
bringt, haben den Charakter ihrer Mutter; aber<lb/>
&#x017F;ein Urtheil, die oft einge&#x017F;chalteten hi&#x017F;tori&#x017F;chen Zu&#x0364;-<lb/>
ge u&#x0364;ber den verderbten Zeitge&#x017F;chmack, &#x017F;ind fein,<lb/>
&#x017F;ind lobwu&#x0364;rdig. Mir wirds al&#x017F;o &#x017F;ehr glaublich,<lb/>
daß Petron, der mit Gewalt ein Dichter &#x017F;eyn woll-<lb/>
te, &#x017F;eine Be&#x017F;chreibung Laokoons, durch die Nachah-<lb/>
mung eines wirklichen Gema&#x0364;ldes, wohl habe auf-<lb/>
&#x017F;tutzen wollen: daß das Gema&#x0364;lde von Laokoon wohl<lb/>
irgend wo anders, als in der Phanta&#x017F;ie Petrons<lb/>
ex&#x017F;i&#x017F;tirt habe. Und wenn es ex&#x017F;i&#x017F;tirt ha&#x0364;tte? &#x2014;<lb/>
Nun! &#x017F;o treffen auch Hr. L. kriti&#x017F;che Streiche auf<lb/>
Petron diesmal einen Unrechten, und &#x017F;ein Arkanum;<lb/>
den Styl eines Nachahmers zu entdecken, kann ihm<lb/>
diesmal unzuverla&#x0364;ßig werden. Hat Petron ein Ge-<lb/>
ma&#x0364;lde ge&#x017F;childert: was eher, als daß &#x017F;ein Auge an<lb/>
Nebenideen hangen blieb, daß er die&#x017F;e Nebenideen<lb/>
auch u&#x0364;bertreiben konnte? J&#x017F;ts, daß er im Bilde<lb/>
das Gera&#x0364;u&#x017F;ch der Schlangen gleich&#x017F;am zu ho&#x0364;ren<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 4</fw><fw place="bottom" type="catch">glaub-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0109] Erſtes Waͤldchen. mit dem Diodor von Sicilien bei Hand, ſeinen Sethos, und andre einen Roman voll Geographie, oder wahrer Geſchichte. Sollte ſich nun nicht Pe- tron auch zu dieſer Klaſſe bekennen? Sehr wahr- ſcheinlich und eben von dieſer Vermiſchung der Wahrheit und der Erdichtung, der Geſchichte und Phantaſie ruͤhrt auch die große Verſchiedenheit des Urtheils, welches die Kunſtrichter uͤber Petron von jeher gefaͤllt. Seine Einbildungskraft iſt ſpielend, trocken, gezwungen; und die Kinder, die ſie hervor bringt, haben den Charakter ihrer Mutter; aber ſein Urtheil, die oft eingeſchalteten hiſtoriſchen Zuͤ- ge uͤber den verderbten Zeitgeſchmack, ſind fein, ſind lobwuͤrdig. Mir wirds alſo ſehr glaublich, daß Petron, der mit Gewalt ein Dichter ſeyn woll- te, ſeine Beſchreibung Laokoons, durch die Nachah- mung eines wirklichen Gemaͤldes, wohl habe auf- ſtutzen wollen: daß das Gemaͤlde von Laokoon wohl irgend wo anders, als in der Phantaſie Petrons exſiſtirt habe. Und wenn es exſiſtirt haͤtte? — Nun! ſo treffen auch Hr. L. kritiſche Streiche auf Petron diesmal einen Unrechten, und ſein Arkanum; den Styl eines Nachahmers zu entdecken, kann ihm diesmal unzuverlaͤßig werden. Hat Petron ein Ge- maͤlde geſchildert: was eher, als daß ſein Auge an Nebenideen hangen blieb, daß er dieſe Nebenideen auch uͤbertreiben konnte? Jſts, daß er im Bilde das Geraͤuſch der Schlangen gleichſam zu hoͤren glaub- G 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/109
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/109>, abgerufen am 22.11.2024.