Provinzen zu usurpiren, rechnet man für nichts. Dem einzelnen Nachbar ein Feld wegnehmen, ist ein Verbrechen; einer Na- tion ein Land wegnehmen, ist eine unschul- dige, Ruhmbringende Handlung. Wo ist hier Gerechtigkeit? wird Gott so richten? "Glaubst Du, daß ich seyn werde, wie Du?" Muß man nur im Kleinen, nicht im Großen gerecht seyn? Millionen Menschen, die eine Nation ausmachen, sind sie weniger unsre Brüder, als Ein Mensch? Darf man Millionen ein Un- recht über Provinzen thun, das man ei- nem Einzelnen über eine Wiese nicht thun dörfte? Zwingt Ihr, weil Ihr der Stär- kere seyd, einen Nachbar den von Euch vorgeschriebenen Frieden zu unterzeichnen, damit er größeren Uebeln aus dem Wege gehe, so unterzeichnet er, wie der Reisende dem Straßenräuber den Beutel reicht,
Provinzen zu uſurpiren, rechnet man fuͤr nichts. Dem einzelnen Nachbar ein Feld wegnehmen, iſt ein Verbrechen; einer Na- tion ein Land wegnehmen, iſt eine unſchul- dige, Ruhmbringende Handlung. Wo iſt hier Gerechtigkeit? wird Gott ſo richten? „Glaubſt Du, daß ich ſeyn werde, wie Du?“ Muß man nur im Kleinen, nicht im Großen gerecht ſeyn? Millionen Menſchen, die eine Nation ausmachen, ſind ſie weniger unſre Bruͤder, als Ein Menſch? Darf man Millionen ein Un- recht uͤber Provinzen thun, das man ei- nem Einzelnen uͤber eine Wieſe nicht thun doͤrfte? Zwingt Ihr, weil Ihr der Staͤr- kere ſeyd, einen Nachbar den von Euch vorgeſchriebenen Frieden zu unterzeichnen, damit er groͤßeren Uebeln aus dem Wege gehe, ſo unterzeichnet er, wie der Reiſende dem Straßenraͤuber den Beutel reicht,
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Provinzen zu uſurpiren, rechnet man fuͤr
nichts. Dem einzelnen Nachbar ein Feld
wegnehmen, iſt ein Verbrechen; einer Na-
tion ein Land wegnehmen, iſt eine unſchul-
dige, Ruhmbringende Handlung. Wo iſt
hier Gerechtigkeit? wird Gott ſo richten?
„Glaubſt Du, daß ich ſeyn werde,
wie Du?“ Muß man nur im Kleinen,
nicht im Großen gerecht ſeyn? Millionen
Menſchen, die eine Nation ausmachen,
ſind ſie weniger unſre Bruͤder, als Ein
Menſch? Darf man Millionen ein Un-
recht uͤber Provinzen thun, das man ei-
nem Einzelnen uͤber eine Wieſe nicht thun
doͤrfte? Zwingt Ihr, weil Ihr der Staͤr-
kere ſeyd, einen Nachbar den von Euch
vorgeſchriebenen Frieden zu unterzeichnen,
damit er groͤßeren Uebeln aus dem Wege
gehe, ſo unterzeichnet er, wie der Reiſende
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 10. Riga, 1797, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet10_1797/59>, abgerufen am 16.02.2025.
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