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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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nachgedacht habe, eben so viel ausrichten, als
zwanzig Bewegungsgründe, deren jedem ich
den zwanzigsten Theil von jenem Nachdenken
geschenkt habe?"

23.

"Die edelsten Wörter sind eben deßwegen
weil sie die edelsten sind, fast niemals zugleich
diejenigen, die uns in der Geschwindigkeit be-
sonders im Affecte zuerst beifallen. Sie ver-
rathen die vorhergegangene Ueberlegung, ver-
wandeln die Helden in Declamatoren und stö-
ren dadurch die Illusion. Es ist daher sogar
ein großes Kunststück eines tragischen Dichters,
wenn er, besonders die erhabensten Gedanken,
in die gemeinsten Worte kleidet, und im Af-
fect nicht das edelste sondern das nachdrück-
lichste Wort, wenn es auch schon einen et-
was niedrigen Nebenbegrif mit sich führen
sollte, ergreifen läßt. Von diesem Kunststücke
werden aber freilich diejenigen nicht wissen
wollen, die nur an einem correcten Racine

nachgedacht habe, eben ſo viel ausrichten, als
zwanzig Bewegungsgruͤnde, deren jedem ich
den zwanzigſten Theil von jenem Nachdenken
geſchenkt habe?“

23.

„Die edelſten Woͤrter ſind eben deßwegen
weil ſie die edelſten ſind, faſt niemals zugleich
diejenigen, die uns in der Geſchwindigkeit be-
ſonders im Affecte zuerſt beifallen. Sie ver-
rathen die vorhergegangene Ueberlegung, ver-
wandeln die Helden in Declamatoren und ſtoͤ-
ren dadurch die Illuſion. Es iſt daher ſogar
ein großes Kunſtſtuͤck eines tragiſchen Dichters,
wenn er, beſonders die erhabenſten Gedanken,
in die gemeinſten Worte kleidet, und im Af-
fect nicht das edelſte ſondern das nachdruͤck-
lichſte Wort, wenn es auch ſchon einen et-
was niedrigen Nebenbegrif mit ſich fuͤhren
ſollte, ergreifen laͤßt. Von dieſem Kunſtſtuͤcke
werden aber freilich diejenigen nicht wiſſen
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[85/0092] nachgedacht habe, eben ſo viel ausrichten, als zwanzig Bewegungsgruͤnde, deren jedem ich den zwanzigſten Theil von jenem Nachdenken geſchenkt habe?“ 23. „Die edelſten Woͤrter ſind eben deßwegen weil ſie die edelſten ſind, faſt niemals zugleich diejenigen, die uns in der Geſchwindigkeit be- ſonders im Affecte zuerſt beifallen. Sie ver- rathen die vorhergegangene Ueberlegung, ver- wandeln die Helden in Declamatoren und ſtoͤ- ren dadurch die Illuſion. Es iſt daher ſogar ein großes Kunſtſtuͤck eines tragiſchen Dichters, wenn er, beſonders die erhabenſten Gedanken, in die gemeinſten Worte kleidet, und im Af- fect nicht das edelſte ſondern das nachdruͤck- lichſte Wort, wenn es auch ſchon einen et- was niedrigen Nebenbegrif mit ſich fuͤhren ſollte, ergreifen laͤßt. Von dieſem Kunſtſtuͤcke werden aber freilich diejenigen nicht wiſſen wollen, die nur an einem correcten Racine

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/92>, abgerufen am 25.11.2024.