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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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bene Begriffe auf ewig überstreichen lassen:
und diejenigen, bei denen sie in einem spä-
tern Alter wieder zum Vorschein kommen,
legen dadurch wider sich selbst das Zeugniß
ab, daß die Begriffe, unter welche sie jene
begraben wollen, noch flacher, noch seichter,
noch weniger ihr Eigenthum gewesen, als
die Begriffe ihrer Kindheit. Nur von sol-
chen Menschen können also auch die gräßli-
chen Erzählungen von plötzlichen Rückfällen
in längst abgelegte Irrthümer auf dem Tod-
bette, wahr seyn, mit welchen man jeden
kleinmüthigeren Freund der Wahrheit zur Ver-
zweiflung bringen könnte. Freilich muß ein
hitziges Fieber aus dem Spiele bleiben; und
was noch schrecklicher ist als ein hitziges Fie-
ber, Einhalt und Heuchelei müssen das Bet-
te des Sterbenden nicht belagern, und ihm
so lange zusetzen, bis sie ihm ein paar zwei-
deutige Worte ausgemergelt, mit welchen
der arme Kranke sich bloß die Erlaub-

bene Begriffe auf ewig uͤberſtreichen laſſen:
und diejenigen, bei denen ſie in einem ſpaͤ-
tern Alter wieder zum Vorſchein kommen,
legen dadurch wider ſich ſelbſt das Zeugniß
ab, daß die Begriffe, unter welche ſie jene
begraben wollen, noch flacher, noch ſeichter,
noch weniger ihr Eigenthum geweſen, als
die Begriffe ihrer Kindheit. Nur von ſol-
chen Menſchen koͤnnen alſo auch die graͤßli-
chen Erzaͤhlungen von ploͤtzlichen Ruͤckfaͤllen
in laͤngſt abgelegte Irrthuͤmer auf dem Tod-
bette, wahr ſeyn, mit welchen man jeden
kleinmuͤthigeren Freund der Wahrheit zur Ver-
zweiflung bringen koͤnnte. Freilich muß ein
hitziges Fieber aus dem Spiele bleiben; und
was noch ſchrecklicher iſt als ein hitziges Fie-
ber, Einhalt und Heuchelei muͤſſen das Bet-
te des Sterbenden nicht belagern, und ihm
ſo lange zuſetzen, bis ſie ihm ein paar zwei-
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[121/0128] bene Begriffe auf ewig uͤberſtreichen laſſen: und diejenigen, bei denen ſie in einem ſpaͤ- tern Alter wieder zum Vorſchein kommen, legen dadurch wider ſich ſelbſt das Zeugniß ab, daß die Begriffe, unter welche ſie jene begraben wollen, noch flacher, noch ſeichter, noch weniger ihr Eigenthum geweſen, als die Begriffe ihrer Kindheit. Nur von ſol- chen Menſchen koͤnnen alſo auch die graͤßli- chen Erzaͤhlungen von ploͤtzlichen Ruͤckfaͤllen in laͤngſt abgelegte Irrthuͤmer auf dem Tod- bette, wahr ſeyn, mit welchen man jeden kleinmuͤthigeren Freund der Wahrheit zur Ver- zweiflung bringen koͤnnte. Freilich muß ein hitziges Fieber aus dem Spiele bleiben; und was noch ſchrecklicher iſt als ein hitziges Fie- ber, Einhalt und Heuchelei muͤſſen das Bet- te des Sterbenden nicht belagern, und ihm ſo lange zuſetzen, bis ſie ihm ein paar zwei- deutige Worte ausgemergelt, mit welchen der arme Kranke ſich bloß die Erlaub-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/128>, abgerufen am 24.11.2024.