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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

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Das wahre Meisterstück, dünkt mich, erfülle
uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Ur-
hebers darüber vergessen; daß wir es nicht
als das Produkt eines einzelnen Wesens,
sondern der allgemeinen Natur betrachten.
Young sagt von der Sonne, es wäre Sün-
de in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten.
Wenn Sinn in dieser Hyperbel liegt, so ist er
dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Son-
ne ist so groß, so überschwenglich, daß es dem
roheren Menschen zu verzeihen, daß es sehr
natürlich war, wenn er sich keine größere
Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von
dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich
also in der Bewunderung der Sonne so sehr
verlohr, daß er an den Schöpfer der Sonne
nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Ursa-
che, warum wir so wenig Zuverlässiges von
der Person und den Lebensumständen des
Homer wissen, ist die Vortrefflichkeit seiner
Gedichte selbst. Wir stehen voller Erstaunen
an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an

Das wahre Meiſterſtuͤck, duͤnkt mich, erfuͤlle
uns ſo ganz mit ſich ſelbſt, daß wir des Ur-
hebers daruͤber vergeſſen; daß wir es nicht
als das Produkt eines einzelnen Weſens,
ſondern der allgemeinen Natur betrachten.
Young ſagt von der Sonne, es waͤre Suͤn-
de in den Heiden geweſen, ſie nicht anzubeten.
Wenn Sinn in dieſer Hyperbel liegt, ſo iſt er
dieſer: der Glanz, die Herrlichkeit der Son-
ne iſt ſo groß, ſo uͤberſchwenglich, daß es dem
roheren Menſchen zu verzeihen, daß es ſehr
natuͤrlich war, wenn er ſich keine groͤßere
Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von
dem jener nur ein Abglanz ſei, wenn er ſich
alſo in der Bewunderung der Sonne ſo ſehr
verlohr, daß er an den Schoͤpfer der Sonne
nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Urſa-
che, warum wir ſo wenig Zuverlaͤſſiges von
der Perſon und den Lebensumſtaͤnden des
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Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen
an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an

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[100/0107] Das wahre Meiſterſtuͤck, duͤnkt mich, erfuͤlle uns ſo ganz mit ſich ſelbſt, daß wir des Ur- hebers daruͤber vergeſſen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzelnen Weſens, ſondern der allgemeinen Natur betrachten. Young ſagt von der Sonne, es waͤre Suͤn- de in den Heiden geweſen, ſie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieſer Hyperbel liegt, ſo iſt er dieſer: der Glanz, die Herrlichkeit der Son- ne iſt ſo groß, ſo uͤberſchwenglich, daß es dem roheren Menſchen zu verzeihen, daß es ſehr natuͤrlich war, wenn er ſich keine groͤßere Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz ſei, wenn er ſich alſo in der Bewunderung der Sonne ſo ſehr verlohr, daß er an den Schoͤpfer der Sonne nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Urſa- che, warum wir ſo wenig Zuverlaͤſſiges von der Perſon und den Lebensumſtaͤnden des Homer wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/107>, abgerufen am 24.11.2024.