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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796.

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Christenthum, zu welchem er ursprünglich
nicht gehörte, einzuverleiben. Ein specu-
lirender Geist, dem es an Materie zur
Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne
Gegenstand der Liebe, geräth immer auf
den Mysticismus. Einsame Gegenden,
Klosterzellen, ein Krankenlager, Gefängniß
und Kerker, endlich auch auffallende Bege-
benheiten, die Bekanntschaft mit sonderbar-
liebreichen und bedeutenden Personen, Worte,
die man von ihnen gehört, Zeichen der Zeit,
die man erlebt hat, u. f. alle diese Dinge
brüten den Mysticismus, dies Lieblings-
kind unsrer geistigen Wirksamkeit und Träg-
heit, in einer groben oder seidenen Umhül-
lung aus und geben ihm zuletzt die bunten
Flügel des himmlischen Amors. Man lie-
bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und
weiß nicht Was? Etwas Unendliches,
das Höchste, Schönste, Beste.

Chriſtenthum, zu welchem er urſpruͤnglich
nicht gehoͤrte, einzuverleiben. Ein ſpecu-
lirender Geiſt, dem es an Materie zur
Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne
Gegenſtand der Liebe, geraͤth immer auf
den Myſticismus. Einſame Gegenden,
Kloſterzellen, ein Krankenlager, Gefaͤngniß
und Kerker, endlich auch auffallende Bege-
benheiten, die Bekanntſchaft mit ſonderbar-
liebreichen und bedeutenden Perſonen, Worte,
die man von ihnen gehoͤrt, Zeichen der Zeit,
die man erlebt hat, u. f. alle dieſe Dinge
bruͤten den Myſticismus, dies Lieblings-
kind unſrer geiſtigen Wirkſamkeit und Traͤg-
heit, in einer groben oder ſeidenen Umhuͤl-
lung aus und geben ihm zuletzt die bunten
Fluͤgel des himmliſchen Amors. Man lie-
bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und
weiß nicht Was? Etwas Unendliches,
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[40/0057] Chriſtenthum, zu welchem er urſpruͤnglich nicht gehoͤrte, einzuverleiben. Ein ſpecu- lirender Geiſt, dem es an Materie zur Speculation fehlet, ein liebendes Herz ohne Gegenſtand der Liebe, geraͤth immer auf den Myſticismus. Einſame Gegenden, Kloſterzellen, ein Krankenlager, Gefaͤngniß und Kerker, endlich auch auffallende Bege- benheiten, die Bekanntſchaft mit ſonderbar- liebreichen und bedeutenden Perſonen, Worte, die man von ihnen gehoͤrt, Zeichen der Zeit, die man erlebt hat, u. f. alle dieſe Dinge bruͤten den Myſticismus, dies Lieblings- kind unſrer geiſtigen Wirkſamkeit und Traͤg- heit, in einer groben oder ſeidenen Umhuͤl- lung aus und geben ihm zuletzt die bunten Fluͤgel des himmliſchen Amors. Man lie- bet, und weiß nicht Wen? man begehret, und weiß nicht Was? Etwas Unendliches, das Hoͤchſte, Schoͤnſte, Beſte.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 7. Riga, 1796, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet07_1796/57>, abgerufen am 12.12.2024.