Die griechische Kunst, meyne ich, soll uns besitzen, und zwar an Seele und Körper.
Allenthalben z. B. gingen die Völker bekleidet umher, und schämeten sich des Gottgebildes, das sie verhüllten; die Grie- chen wagten es, den Menschen in der Herrlichkeit zu zeigen, die ihm Gott an- schuf. Welcher Vater, welche Mutter wünschet sich nicht gesunde, wohlgestaltete Kinder? wer erfreuet sich nicht an ihrem Anblick und fühlt seine Brust erweitert, wenn er einen schamhaften Jüngling, ei- ne züchtige Jungfrau siehet? In dieser Jugendkraft, die, von einer glücklichen Natur erzeuget, durch Mäßigkeit und Ue- bung allein gedeihet, fühlt jedermann die Anlage zu einem thätigen, heitern Leben; und bedauret die Gelegenheit, die ihm zu Ausbildung dieser Gestalt und Kräfte ver-
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Die griechiſche Kunſt, meyne ich, ſoll uns beſitzen, und zwar an Seele und Koͤrper.
Allenthalben z. B. gingen die Voͤlker bekleidet umher, und ſchaͤmeten ſich des Gottgebildes, das ſie verhuͤllten; die Grie- chen wagten es, den Menſchen in der Herrlichkeit zu zeigen, die ihm Gott an- ſchuf. Welcher Vater, welche Mutter wuͤnſchet ſich nicht geſunde, wohlgeſtaltete Kinder? wer erfreuet ſich nicht an ihrem Anblick und fuͤhlt ſeine Bruſt erweitert, wenn er einen ſchamhaften Juͤngling, ei- ne zuͤchtige Jungfrau ſiehet? In dieſer Jugendkraft, die, von einer gluͤcklichen Natur erzeuget, durch Maͤßigkeit und Ue- bung allein gedeihet, fuͤhlt jedermann die Anlage zu einem thaͤtigen, heitern Leben; und bedauret die Gelegenheit, die ihm zu Ausbildung dieſer Geſtalt und Kraͤfte ver-
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Die griechiſche Kunſt, meyne ich,
ſoll uns beſitzen, und zwar an Seele
und Koͤrper.
Allenthalben z. B. gingen die Voͤlker
bekleidet umher, und ſchaͤmeten ſich des
Gottgebildes, das ſie verhuͤllten; die Grie-
chen wagten es, den Menſchen in der
Herrlichkeit zu zeigen, die ihm Gott an-
ſchuf. Welcher Vater, welche Mutter
wuͤnſchet ſich nicht geſunde, wohlgeſtaltete
Kinder? wer erfreuet ſich nicht an ihrem
Anblick und fuͤhlt ſeine Bruſt erweitert,
wenn er einen ſchamhaften Juͤngling, ei-
ne zuͤchtige Jungfrau ſiehet? In dieſer
Jugendkraft, die, von einer gluͤcklichen
Natur erzeuget, durch Maͤßigkeit und Ue-
bung allein gedeihet, fuͤhlt jedermann die
Anlage zu einem thaͤtigen, heitern Leben;
und bedauret die Gelegenheit, die ihm zu
Ausbildung dieſer Geſtalt und Kraͤfte ver-
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/98>, abgerufen am 16.07.2024.
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