das Inventarium der Botanik worden, schätzet man seine nach Naturkennzeichen gegebne Thierclassen hoch; sollte es nicht auch Menschenclassen nach Natur- eigenschaften geben? und wären diese, auf die reinsten Begriffe gebracht und in unzerstörbaren Formen dargestellt, nicht al- ler Betrachtung werth? Daß die Griechen den Menschen mit einem unbefangeneren, schärfern Blick angesehen haben, als wir, wird niemand läugnen; daß unsre Tempe- raments- und physiognomische Eintheilun- gen zu Nichts sicherm führen, muß jeder- mann klar einsehn; warum liegen uns denn jene von Meistern erfundene scharfe und große Formen der Unterschei- dung so weit ab? Warum sonst, als, weil wir sie nicht verstehen, oder zu ge- brauchen nicht vermögen. Wir fühlen, daß der edelste Saame, unter uns aufkei-
das Inventarium der Botanik worden, ſchaͤtzet man ſeine nach Naturkennzeichen gegebne Thierclaſſen hoch; ſollte es nicht auch Menſchenclaſſen nach Natur- eigenſchaften geben? und waͤren dieſe, auf die reinſten Begriffe gebracht und in unzerſtoͤrbaren Formen dargeſtellt, nicht al- ler Betrachtung werth? Daß die Griechen den Menſchen mit einem unbefangeneren, ſchaͤrfern Blick angeſehen haben, als wir, wird niemand laͤugnen; daß unſre Tempe- raments- und phyſiognomiſche Eintheilun- gen zu Nichts ſicherm fuͤhren, muß jeder- mann klar einſehn; warum liegen uns denn jene von Meiſtern erfundene ſcharfe und große Formen der Unterſchei- dung ſo weit ab? Warum ſonſt, als, weil wir ſie nicht verſtehen, oder zu ge- brauchen nicht vermoͤgen. Wir fuͤhlen, daß der edelſte Saame, unter uns aufkei-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0059"n="44"/>
das Inventarium der Botanik worden,<lb/>ſchaͤtzet man ſeine nach Naturkennzeichen<lb/>
gegebne Thierclaſſen hoch; ſollte es nicht<lb/>
auch <hirendition="#g">Menſchenclaſſen nach Natur</hi>-<lb/><hirendition="#g">eigenſchaften</hi> geben? und waͤren dieſe,<lb/>
auf die reinſten Begriffe gebracht und in<lb/>
unzerſtoͤrbaren Formen dargeſtellt, nicht al-<lb/>
ler Betrachtung werth? Daß die Griechen<lb/>
den Menſchen mit einem unbefangeneren,<lb/>ſchaͤrfern Blick angeſehen haben, als wir,<lb/>
wird niemand laͤugnen; daß unſre Tempe-<lb/>
raments- und phyſiognomiſche Eintheilun-<lb/>
gen zu Nichts ſicherm fuͤhren, muß jeder-<lb/>
mann klar einſehn; warum liegen uns<lb/>
denn jene von Meiſtern erfundene ſcharfe<lb/>
und große <hirendition="#g">Formen der Unterſchei</hi>-<lb/><hirendition="#g">dung</hi>ſo weit ab? Warum ſonſt, als,<lb/>
weil wir ſie nicht verſtehen, oder zu ge-<lb/>
brauchen nicht vermoͤgen. Wir fuͤhlen,<lb/>
daß der edelſte Saame, unter uns aufkei-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[44/0059]
das Inventarium der Botanik worden,
ſchaͤtzet man ſeine nach Naturkennzeichen
gegebne Thierclaſſen hoch; ſollte es nicht
auch Menſchenclaſſen nach Natur-
eigenſchaften geben? und waͤren dieſe,
auf die reinſten Begriffe gebracht und in
unzerſtoͤrbaren Formen dargeſtellt, nicht al-
ler Betrachtung werth? Daß die Griechen
den Menſchen mit einem unbefangeneren,
ſchaͤrfern Blick angeſehen haben, als wir,
wird niemand laͤugnen; daß unſre Tempe-
raments- und phyſiognomiſche Eintheilun-
gen zu Nichts ſicherm fuͤhren, muß jeder-
mann klar einſehn; warum liegen uns
denn jene von Meiſtern erfundene ſcharfe
und große Formen der Unterſchei-
dung ſo weit ab? Warum ſonſt, als,
weil wir ſie nicht verſtehen, oder zu ge-
brauchen nicht vermoͤgen. Wir fuͤhlen,
daß der edelſte Saame, unter uns aufkei-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/59>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.