zie, mit der du dich, durch und durch sichtbar, dem Auge unsicht- bar zu machen weißt, diese in sich gehüllete Schaam und Bescheiden- heit ist dein Charakter. Auch auf dem häuslichen Altar der Griechen standest du nicht anders als unter diesem Bilde: denn nur Schaam kann Liebe erwecken und zeu- gen. Es ist ein verfehlter Charakter, wenn Aphrodite zurückblickt, oder sich mit Wohl- gefälligkeit zeiget; ihre Schönheit ist die, daß sie, sich vor ihr selbst gleichsam und vor Allem verbergend, Himmel und Erde entzückt; dem wegschlüpfenden Thautropfen einer jungen Rose ähnlich, in dem sich die anbrechende Morgenröthe spiegelt. Das bedeutet ihr Apfel, das ihre Taube; dahin hat sie der Sinn der Griechen, selbst mit ihrem zu kleinen Köpfchen und was man sonst an ihr tadelte, gedichtet. Beschei-
zie, mit der du dich, durch und durch ſichtbar, dem Auge unſicht- bar zu machen weißt, dieſe in ſich gehuͤllete Schaam und Beſcheiden- heit iſt dein Charakter. Auch auf dem haͤuslichen Altar der Griechen ſtandeſt du nicht anders als unter dieſem Bilde: denn nur Schaam kann Liebe erwecken und zeu- gen. Es iſt ein verfehlter Charakter, wenn Aphrodite zuruͤckblickt, oder ſich mit Wohl- gefaͤlligkeit zeiget; ihre Schoͤnheit iſt die, daß ſie, ſich vor ihr ſelbſt gleichſam und vor Allem verbergend, Himmel und Erde entzuͤckt; dem wegſchluͤpfenden Thautropfen einer jungen Roſe aͤhnlich, in dem ſich die anbrechende Morgenroͤthe ſpiegelt. Das bedeutet ihr Apfel, das ihre Taube; dahin hat ſie der Sinn der Griechen, ſelbſt mit ihrem zu kleinen Koͤpfchen und was man ſonſt an ihr tadelte, gedichtet. Beſchei-
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zie, mit der du dich, durch und
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gehuͤllete Schaam und Beſcheiden-
heit iſt dein Charakter. Auch auf dem
haͤuslichen Altar der Griechen ſtandeſt du
nicht anders als unter dieſem Bilde: denn
nur Schaam kann Liebe erwecken und zeu-
gen. Es iſt ein verfehlter Charakter, wenn
Aphrodite zuruͤckblickt, oder ſich mit Wohl-
gefaͤlligkeit zeiget; ihre Schoͤnheit iſt die,
daß ſie, ſich vor ihr ſelbſt gleichſam und
vor Allem verbergend, Himmel und Erde
entzuͤckt; dem wegſchluͤpfenden Thautropfen
einer jungen Roſe aͤhnlich, in dem ſich die
anbrechende Morgenroͤthe ſpiegelt. Das
bedeutet ihr Apfel, das ihre Taube; dahin
hat ſie der Sinn der Griechen, ſelbſt mit
ihrem zu kleinen Koͤpfchen und was man
ſonſt an ihr tadelte, gedichtet. Beſchei-
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/56>, abgerufen am 16.02.2025.
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