Aber es kam die Zeit, da dieser schö- ne Kunstsinn untergehen, und eine ge- drückte, mystische Vorstellungsart die Ge- müther der Menschen benebeln sollte. Lan- ge, barbarische Jahrhunderte hindurch wa- ren dem Schmetterlinge die Flügel ge- nommen; er kroch als Raupe daher, oder lag eingesponnen in rauhen Windeln. Als er wieder erwachte, zeigte sich, (wir wollen es nicht verhehlen) eine neue sitt- lichere Kunstgestalt, von welcher in manchem Betracht die Griechen nicht wuß- ten. Das weibliche Geschlecht, das bei ihnen in Gynecäen eingeschlossen war und, wenige Fälle ausgenommen, nur in Ge- stalt der Göttinnen und Amazonen, der Musen und Nymphen der bildenden Kunst einverleibt werden konnte; (von den grie- chischen Gemälden können wir nicht ur- theilen) dies Geschlecht hatte durch das
Aber es kam die Zeit, da dieſer ſchoͤ- ne Kunſtſinn untergehen, und eine ge- druͤckte, myſtiſche Vorſtellungsart die Ge- muͤther der Menſchen benebeln ſollte. Lan- ge, barbariſche Jahrhunderte hindurch wa- ren dem Schmetterlinge die Fluͤgel ge- nommen; er kroch als Raupe daher, oder lag eingeſponnen in rauhen Windeln. Als er wieder erwachte, zeigte ſich, (wir wollen es nicht verhehlen) eine neue ſitt- lichere Kunſtgeſtalt, von welcher in manchem Betracht die Griechen nicht wuß- ten. Das weibliche Geſchlecht, das bei ihnen in Gynecaͤen eingeſchloſſen war und, wenige Faͤlle ausgenommen, nur in Ge- ſtalt der Goͤttinnen und Amazonen, der Muſen und Nymphen der bildenden Kunſt einverleibt werden konnte; (von den grie- chiſchen Gemaͤlden koͤnnen wir nicht ur- theilen) dies Geſchlecht hatte durch das
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0148"n="133"/><p>Aber es kam die Zeit, da dieſer ſchoͤ-<lb/>
ne Kunſtſinn untergehen, und eine ge-<lb/>
druͤckte, myſtiſche Vorſtellungsart die Ge-<lb/>
muͤther der Menſchen benebeln ſollte. Lan-<lb/>
ge, barbariſche Jahrhunderte hindurch wa-<lb/>
ren dem Schmetterlinge die Fluͤgel ge-<lb/>
nommen; er kroch als Raupe daher, oder<lb/>
lag eingeſponnen in rauhen Windeln.<lb/>
Als er wieder erwachte, zeigte ſich, (wir<lb/>
wollen es nicht verhehlen) eine <hirendition="#g">neue ſitt</hi>-<lb/><hirendition="#g">lichere Kunſtgeſtalt</hi>, von welcher in<lb/>
manchem Betracht die Griechen nicht wuß-<lb/>
ten. Das weibliche Geſchlecht, das bei<lb/>
ihnen in Gynecaͤen eingeſchloſſen war und,<lb/>
wenige Faͤlle ausgenommen, nur in Ge-<lb/>ſtalt der Goͤttinnen und Amazonen, der<lb/>
Muſen und Nymphen der bildenden Kunſt<lb/>
einverleibt werden konnte; (von den grie-<lb/>
chiſchen Gemaͤlden koͤnnen wir nicht ur-<lb/>
theilen) dies Geſchlecht hatte durch das<lb/></p></div></body></text></TEI>
[133/0148]
Aber es kam die Zeit, da dieſer ſchoͤ-
ne Kunſtſinn untergehen, und eine ge-
druͤckte, myſtiſche Vorſtellungsart die Ge-
muͤther der Menſchen benebeln ſollte. Lan-
ge, barbariſche Jahrhunderte hindurch wa-
ren dem Schmetterlinge die Fluͤgel ge-
nommen; er kroch als Raupe daher, oder
lag eingeſponnen in rauhen Windeln.
Als er wieder erwachte, zeigte ſich, (wir
wollen es nicht verhehlen) eine neue ſitt-
lichere Kunſtgeſtalt, von welcher in
manchem Betracht die Griechen nicht wuß-
ten. Das weibliche Geſchlecht, das bei
ihnen in Gynecaͤen eingeſchloſſen war und,
wenige Faͤlle ausgenommen, nur in Ge-
ſtalt der Goͤttinnen und Amazonen, der
Muſen und Nymphen der bildenden Kunſt
einverleibt werden konnte; (von den grie-
chiſchen Gemaͤlden koͤnnen wir nicht ur-
theilen) dies Geſchlecht hatte durch das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 6. Riga, 1795, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet06_1795/148>, abgerufen am 21.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.