seine Gesänge und Gebete sprechen noch zu Gott mit der Stimme eines verlohr- nen Kindes, eines gedemüthigten Knech- tes. Wenn ein Geist der Poesie, der Leh- re, der Ermahnung in diesem Volke wie- der aufleben sollte, so kann er nicht anders als in solchem Ton zum Volk singen und reden.
Haben Wir dies Publicum der Ebrä- er? Mich dünkt, jedes Volk habe es durch seine Sprache. Diese ist ein göttliches Organ der Belehrung, Strafe und Unter- weisung für Jeden, der für sie Sinn und Ohr hat. Das Band der Zunge und des Ohrs knüpft ein Publicum; auf diesem Wege vernehmen wir Gedanken und Rath, wir fassen Entschliessungen, und theilen mit einander Belehrung, Leid und Freu- de. Wer in derselben Sprache erzogen ward, wer sein Herz in sie schütten, seine
ſeine Geſaͤnge und Gebete ſprechen noch zu Gott mit der Stimme eines verlohr- nen Kindes, eines gedemuͤthigten Knech- tes. Wenn ein Geiſt der Poeſie, der Leh- re, der Ermahnung in dieſem Volke wie- der aufleben ſollte, ſo kann er nicht anders als in ſolchem Ton zum Volk ſingen und reden.
Haben Wir dies Publicum der Ebraͤ- er? Mich duͤnkt, jedes Volk habe es durch ſeine Sprache. Dieſe iſt ein goͤttliches Organ der Belehrung, Strafe und Unter- weiſung fuͤr Jeden, der fuͤr ſie Sinn und Ohr hat. Das Band der Zunge und des Ohrs knuͤpft ein Publicum; auf dieſem Wege vernehmen wir Gedanken und Rath, wir faſſen Entſchlieſſungen, und theilen mit einander Belehrung, Leid und Freu- de. Wer in derſelben Sprache erzogen ward, wer ſein Herz in ſie ſchuͤtten, ſeine
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ſeine Geſaͤnge und Gebete ſprechen noch
zu Gott mit der Stimme eines verlohr-
nen Kindes, eines gedemuͤthigten Knech-
tes. Wenn ein Geiſt der Poeſie, der Leh-
re, der Ermahnung in dieſem Volke wie-
der aufleben ſollte, ſo kann er nicht anders
als in ſolchem Ton zum Volk ſingen und
reden.
Haben Wir dies Publicum der Ebraͤ-
er? Mich duͤnkt, jedes Volk habe es durch
ſeine Sprache. Dieſe iſt ein goͤttliches
Organ der Belehrung, Strafe und Unter-
weiſung fuͤr Jeden, der fuͤr ſie Sinn und
Ohr hat. Das Band der Zunge und des
Ohrs knuͤpft ein Publicum; auf dieſem
Wege vernehmen wir Gedanken und Rath,
wir faſſen Entſchlieſſungen, und theilen
mit einander Belehrung, Leid und Freu-
de. Wer in derſelben Sprache erzogen
ward, wer ſein Herz in ſie ſchuͤtten, ſeine
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 5. Riga, 1795, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet05_1795/74>, abgerufen am 23.07.2024.
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