len leibt und lebt das Land unsrer ersten Jugend. Sei der Boden, sei das Klima, wie es wolle; die Seele sehnt sich dahin zurück, und je weniger die kleine Gesell- schaft, in der wir erzogen wurden, ein Staat war, je weniger sich Stände und Menschenclassen darinn trennten, um so weniger Hindernisse findet die Einbil- dungskraft, sich in den Schoos dieses Va- terlandes zurückzusehnen. Da hörten und lernten wir ja die ersten Töne der Liebe; da schlossen wir zuerst den Bund der Freundschaft, und empfanden die Keime zarter Neigung in beiden Geschlechtern; wir sahen die Sonne, den Mond, den Himmel, den Frühling mit seinen Bäu- men, Blüthen und damals uns so süße- ren Früchten. Der Weltlauf spielte vor uns; wir sahn die Jahreszeiten sich wäl- zen, kämpften mit Gefahren, mit Leid und
Fünfte Samml. (I)
len leibt und lebt das Land unſrer erſten Jugend. Sei der Boden, ſei das Klima, wie es wolle; die Seele ſehnt ſich dahin zuruͤck, und je weniger die kleine Geſell- ſchaft, in der wir erzogen wurden, ein Staat war, je weniger ſich Staͤnde und Menſchenclaſſen darinn trennten, um ſo weniger Hinderniſſe findet die Einbil- dungskraft, ſich in den Schoos dieſes Va- terlandes zuruͤckzuſehnen. Da hoͤrten und lernten wir ja die erſten Toͤne der Liebe; da ſchloſſen wir zuerſt den Bund der Freundſchaft, und empfanden die Keime zarter Neigung in beiden Geſchlechtern; wir ſahen die Sonne, den Mond, den Himmel, den Fruͤhling mit ſeinen Baͤu- men, Bluͤthen und damals uns ſo ſuͤße- ren Fruͤchten. Der Weltlauf ſpielte vor uns; wir ſahn die Jahreszeiten ſich waͤl- zen, kaͤmpften mit Gefahren, mit Leid und
Fünfte Samml. (I)
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len leibt und lebt das Land unſrer erſten
Jugend. Sei der Boden, ſei das Klima,
wie es wolle; die Seele ſehnt ſich dahin
zuruͤck, und je weniger die kleine Geſell-
ſchaft, in der wir erzogen wurden, ein
Staat war, je weniger ſich Staͤnde und
Menſchenclaſſen darinn trennten, um ſo
weniger Hinderniſſe findet die Einbil-
dungskraft, ſich in den Schoos dieſes Va-
terlandes zuruͤckzuſehnen. Da hoͤrten und
lernten wir ja die erſten Toͤne der Liebe;
da ſchloſſen wir zuerſt den Bund der
Freundſchaft, und empfanden die Keime
zarter Neigung in beiden Geſchlechtern;
wir ſahen die Sonne, den Mond, den
Himmel, den Fruͤhling mit ſeinen Baͤu-
men, Bluͤthen und damals uns ſo ſuͤße-
ren Fruͤchten. Der Weltlauf ſpielte vor
uns; wir ſahn die Jahreszeiten ſich waͤl-
zen, kaͤmpften mit Gefahren, mit Leid und
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 5. Riga, 1795, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet05_1795/144>, abgerufen am 16.02.2025.
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