dern, sehr gut kenne, muß euch voraus- sagen, daß alle Philosophen der Welt das menschliche Geschlecht von dem Aberglauben nicht frei machen werden, an dem es hängt. Die Natur hat dieses Ingrediens in die Composition der ganzen Gattung gemischt; eine Furcht, eine Schwäche, eine Leicht- gläubigkeit, eine Uebereilung des Urtheils ziehet die Menschen durch einen natürlichen Hang in das System des Wunderbaren; und es giebt nur wenig philosophische Seelen, die stark genug gebauet sind, um die tiefen Wurzeln der Vorurtheile, die die Erziehung in sie schlug, zu zerstören. Diesen hat sein gesunder Verstand von einigen Volksirrthümern losgemacht, er empörte sich gegen Ungereimtheiten; jetzt kommt der Tod ihm näher, und aus Furcht fällt er in den Aberglauben zurück; er stirbt als Kapuziner. Bei jenem hängt seine Art zu
dern, ſehr gut kenne, muß euch voraus- ſagen, daß alle Philoſophen der Welt das menſchliche Geſchlecht von dem Aberglauben nicht frei machen werden, an dem es haͤngt. Die Natur hat dieſes Ingrediens in die Compoſition der ganzen Gattung gemiſcht; eine Furcht, eine Schwaͤche, eine Leicht- glaͤubigkeit, eine Uebereilung des Urtheils ziehet die Menſchen durch einen natuͤrlichen Hang in das Syſtem des Wunderbaren; und es giebt nur wenig philoſophiſche Seelen, die ſtark genug gebauet ſind, um die tiefen Wurzeln der Vorurtheile, die die Erziehung in ſie ſchlug, zu zerſtoͤren. Dieſen hat ſein geſunder Verſtand von einigen Volksirrthuͤmern losgemacht, er empoͤrte ſich gegen Ungereimtheiten; jetzt kommt der Tod ihm naͤher, und aus Furcht faͤllt er in den Aberglauben zuruͤck; er ſtirbt als Kapuziner. Bei jenem haͤngt ſeine Art zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0083"n="78"/>
dern, ſehr gut kenne, muß euch voraus-<lb/>ſagen, daß alle Philoſophen der Welt das<lb/>
menſchliche Geſchlecht von dem Aberglauben<lb/>
nicht frei machen werden, an dem es haͤngt.<lb/>
Die Natur hat dieſes Ingrediens in die<lb/>
Compoſition der ganzen Gattung gemiſcht;<lb/>
eine Furcht, eine Schwaͤche, eine Leicht-<lb/>
glaͤubigkeit, eine Uebereilung des Urtheils<lb/>
ziehet die Menſchen durch einen natuͤrlichen<lb/>
Hang in das Syſtem des Wunderbaren;<lb/>
und es giebt nur wenig philoſophiſche<lb/>
Seelen, die ſtark genug gebauet ſind, um<lb/>
die tiefen Wurzeln der Vorurtheile, die die<lb/>
Erziehung in ſie ſchlug, zu zerſtoͤren. Dieſen<lb/>
hat ſein geſunder Verſtand von einigen<lb/>
Volksirrthuͤmern losgemacht, er empoͤrte<lb/>ſich gegen Ungereimtheiten; jetzt kommt der<lb/>
Tod ihm naͤher, und aus Furcht faͤllt er in<lb/>
den Aberglauben zuruͤck; er ſtirbt als<lb/>
Kapuziner. Bei jenem haͤngt ſeine Art zu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[78/0083]
dern, ſehr gut kenne, muß euch voraus-
ſagen, daß alle Philoſophen der Welt das
menſchliche Geſchlecht von dem Aberglauben
nicht frei machen werden, an dem es haͤngt.
Die Natur hat dieſes Ingrediens in die
Compoſition der ganzen Gattung gemiſcht;
eine Furcht, eine Schwaͤche, eine Leicht-
glaͤubigkeit, eine Uebereilung des Urtheils
ziehet die Menſchen durch einen natuͤrlichen
Hang in das Syſtem des Wunderbaren;
und es giebt nur wenig philoſophiſche
Seelen, die ſtark genug gebauet ſind, um
die tiefen Wurzeln der Vorurtheile, die die
Erziehung in ſie ſchlug, zu zerſtoͤren. Dieſen
hat ſein geſunder Verſtand von einigen
Volksirrthuͤmern losgemacht, er empoͤrte
ſich gegen Ungereimtheiten; jetzt kommt der
Tod ihm naͤher, und aus Furcht faͤllt er in
den Aberglauben zuruͤck; er ſtirbt als
Kapuziner. Bei jenem haͤngt ſeine Art zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/83>, abgerufen am 24.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.