Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

net; alle Erfahrungen voriger Zeiten sind
in seine Seele gedrückt, sind auf seine Glie-
der verbreitet.

"Wohin will er?" Wohin er kommen
kann. Er hat aus den vorigen Zeiten ge-
sammlet, sammlet aus den jetzigen, und
dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht
ist groß, aber unsichtbar; der Verständige
bemerkt und nutzt sie; dem Unweisen wird
sie, meistens zu spät, nur in erfolgten Wir-
kungen glaubhaft.

"Muß der Geist der Zeit herrschen oder
dienen?" Er muß beides an Stelle und
Ort. Der Weise giebt ihm nach, um zu
rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine
sehr behutsame, sichre Hand gehöret. In-
dessen wird er offenbar gelenkt; nicht von
der Menge, sondern von wenigen, tiefer
als andre blickenden, standhaften und glück-
lichen Geistern. Oft leben und wirken diese

net; alle Erfahrungen voriger Zeiten ſind
in ſeine Seele gedruͤckt, ſind auf ſeine Glie-
der verbreitet.

„Wohin will er?“ Wohin er kommen
kann. Er hat aus den vorigen Zeiten ge-
ſammlet, ſammlet aus den jetzigen, und
dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht
iſt groß, aber unſichtbar; der Verſtaͤndige
bemerkt und nutzt ſie; dem Unweiſen wird
ſie, meiſtens zu ſpaͤt, nur in erfolgten Wir-
kungen glaubhaft.

„Muß der Geiſt der Zeit herrſchen oder
dienen?“ Er muß beides an Stelle und
Ort. Der Weiſe giebt ihm nach, um zu
rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine
ſehr behutſame, ſichre Hand gehoͤret. In-
deſſen wird er offenbar gelenkt; nicht von
der Menge, ſondern von wenigen, tiefer
als andre blickenden, ſtandhaften und gluͤck-
lichen Geiſtern. Oft leben und wirken dieſe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0015" n="10"/>
net; alle Erfahrungen voriger Zeiten &#x017F;ind<lb/>
in &#x017F;eine Seele gedru&#x0364;ckt, &#x017F;ind auf &#x017F;eine Glie-<lb/>
der verbreitet.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Wohin will er?&#x201C; Wohin er kommen<lb/>
kann. Er hat aus den vorigen Zeiten ge-<lb/>
&#x017F;ammlet, &#x017F;ammlet aus den jetzigen, und<lb/>
dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht<lb/>
i&#x017F;t groß, aber un&#x017F;ichtbar; der Ver&#x017F;ta&#x0364;ndige<lb/>
bemerkt und nutzt &#x017F;ie; dem Unwei&#x017F;en wird<lb/>
&#x017F;ie, mei&#x017F;tens zu &#x017F;pa&#x0364;t, nur in erfolgten Wir-<lb/>
kungen glaubhaft.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Muß der Gei&#x017F;t der Zeit herr&#x017F;chen oder<lb/>
dienen?&#x201C; Er muß beides an Stelle und<lb/>
Ort. Der Wei&#x017F;e giebt ihm nach, um zu<lb/>
rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine<lb/>
&#x017F;ehr behut&#x017F;ame, &#x017F;ichre Hand geho&#x0364;ret. In-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en wird er offenbar gelenkt; nicht von<lb/>
der Menge, &#x017F;ondern von wenigen, tiefer<lb/>
als andre blickenden, &#x017F;tandhaften und glu&#x0364;ck-<lb/>
lichen Gei&#x017F;tern. Oft leben und wirken die&#x017F;e<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0015] net; alle Erfahrungen voriger Zeiten ſind in ſeine Seele gedruͤckt, ſind auf ſeine Glie- der verbreitet. „Wohin will er?“ Wohin er kommen kann. Er hat aus den vorigen Zeiten ge- ſammlet, ſammlet aus den jetzigen, und dringt in die folgenden Zeiten. Seine Macht iſt groß, aber unſichtbar; der Verſtaͤndige bemerkt und nutzt ſie; dem Unweiſen wird ſie, meiſtens zu ſpaͤt, nur in erfolgten Wir- kungen glaubhaft. „Muß der Geiſt der Zeit herrſchen oder dienen?“ Er muß beides an Stelle und Ort. Der Weiſe giebt ihm nach, um zu rechter Zeit ihn zu lenken; wozu aber eine ſehr behutſame, ſichre Hand gehoͤret. In- deſſen wird er offenbar gelenkt; nicht von der Menge, ſondern von wenigen, tiefer als andre blickenden, ſtandhaften und gluͤck- lichen Geiſtern. Oft leben und wirken dieſe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/15
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/15>, abgerufen am 25.11.2024.