"Dies sind Maximen, die im Herzen jedes Menschen von selbst entspringen müßen; das Gefühl giebt sie, wenn man nur etwas nachdenkt; man hat keinen großen Cursus der Moral nöthig, um sie zu lernen.
"Tyrannen betrachten die Sache anders. Sie sehen die Welt, als für sie geschaffen, an; und um über gewisse gewöhnliche Un- glücksfälle erhoben zu seyn, verhärten sie ihr Herz vor denselben. Wenn sie ihre Un- terthanen unterdrücken, wenn sie hart, ge- waltthätig und grausam sind; so kommt dies daher, daß sie das Böse nicht kennen, das sie verüben; sie haben es nie selbst ge- fühlt, darum gehen sie so leicht darüber. Sie sind nicht im Fall des Mutius Scä- vola gewesen, der vorm Porsenna die Hand ins Feuer steckte, und dadurch die Wirkung des Feuers auf seine Hand wohl kennen lernte.
„Dies ſind Maximen, die im Herzen jedes Menſchen von ſelbſt entſpringen muͤßen; das Gefuͤhl giebt ſie, wenn man nur etwas nachdenkt; man hat keinen großen Curſus der Moral noͤthig, um ſie zu lernen.
„Tyrannen betrachten die Sache anders. Sie ſehen die Welt, als fuͤr ſie geſchaffen, an; und um uͤber gewiſſe gewoͤhnliche Un- gluͤcksfaͤlle erhoben zu ſeyn, verhaͤrten ſie ihr Herz vor denſelben. Wenn ſie ihre Un- terthanen unterdruͤcken, wenn ſie hart, ge- waltthaͤtig und grauſam ſind; ſo kommt dies daher, daß ſie das Boͤſe nicht kennen, das ſie veruͤben; ſie haben es nie ſelbſt ge- fuͤhlt, darum gehen ſie ſo leicht daruͤber. Sie ſind nicht im Fall des Mutius Scaͤ- vola geweſen, der vorm Porſenna die Hand ins Feuer ſteckte, und dadurch die Wirkung des Feuers auf ſeine Hand wohl kennen lernte.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0085"n="78"/><p>„Dies ſind Maximen, die im Herzen<lb/>
jedes Menſchen von ſelbſt entſpringen muͤßen;<lb/>
das Gefuͤhl giebt ſie, wenn man nur etwas<lb/>
nachdenkt; man hat keinen großen Curſus<lb/>
der Moral noͤthig, um ſie zu lernen.</p><lb/><p>„Tyrannen betrachten die Sache anders.<lb/>
Sie ſehen die Welt, als fuͤr ſie geſchaffen,<lb/>
an; und um uͤber gewiſſe gewoͤhnliche Un-<lb/>
gluͤcksfaͤlle erhoben zu ſeyn, verhaͤrten ſie<lb/>
ihr Herz vor denſelben. Wenn ſie ihre Un-<lb/>
terthanen unterdruͤcken, wenn ſie hart, ge-<lb/>
waltthaͤtig und grauſam ſind; ſo kommt<lb/>
dies daher, daß ſie das Boͤſe nicht kennen,<lb/>
das ſie veruͤben; ſie haben es nie ſelbſt ge-<lb/>
fuͤhlt, darum gehen ſie ſo leicht daruͤber.<lb/>
Sie ſind nicht im Fall des <hirendition="#g">Mutius Scaͤ</hi>-<lb/><hirendition="#g">vola</hi> geweſen, der vorm Porſenna die<lb/>
Hand ins Feuer ſteckte, und dadurch die<lb/>
Wirkung des Feuers auf ſeine Hand wohl<lb/>
kennen lernte.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[78/0085]
„Dies ſind Maximen, die im Herzen
jedes Menſchen von ſelbſt entſpringen muͤßen;
das Gefuͤhl giebt ſie, wenn man nur etwas
nachdenkt; man hat keinen großen Curſus
der Moral noͤthig, um ſie zu lernen.
„Tyrannen betrachten die Sache anders.
Sie ſehen die Welt, als fuͤr ſie geſchaffen,
an; und um uͤber gewiſſe gewoͤhnliche Un-
gluͤcksfaͤlle erhoben zu ſeyn, verhaͤrten ſie
ihr Herz vor denſelben. Wenn ſie ihre Un-
terthanen unterdruͤcken, wenn ſie hart, ge-
waltthaͤtig und grauſam ſind; ſo kommt
dies daher, daß ſie das Boͤſe nicht kennen,
das ſie veruͤben; ſie haben es nie ſelbſt ge-
fuͤhlt, darum gehen ſie ſo leicht daruͤber.
Sie ſind nicht im Fall des Mutius Scaͤ-
vola geweſen, der vorm Porſenna die
Hand ins Feuer ſteckte, und dadurch die
Wirkung des Feuers auf ſeine Hand wohl
kennen lernte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/85>, abgerufen am 28.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.