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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793.

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fahrung bildet sich der lebendigste Theil
unsrer praktischen Vernunft. Wer nicht zu
hören versteht, verstehet auch nicht zu be-
merken; und aus dem Erzählen zeigt sich,
ob jemand zu hören gewußt habe. Frank-
lins beste Einkleidungen gingen aus solchen
verständig-angehörten lebendigen Thatsa-
chen hervor; von ihnen empfingen sie ihre
gefällige Gestalt, ihre leichte Wendung. In
Zeiten, da man viel hörte, viel erzählte
und wenig las, schrieb man am besten; so
ists noch in allen Materien, die aus leben-
diger Ansicht menschlicher Dinge entspringen
müssen und dahin wirken. Schrift und
Rede ist bei uns oft zu weit von einander
getrennt; daher sind Bücher oft Leichname
oder Mumien, nicht lebendig-beseelte Kör-
per. Griechen und Römer, auch unter
Galliern und Britten die erlesenste Schrift-
steller waren sprechende oder gar handelnde

fahrung bildet ſich der lebendigſte Theil
unſrer praktiſchen Vernunft. Wer nicht zu
hoͤren verſteht, verſtehet auch nicht zu be-
merken; und aus dem Erzaͤhlen zeigt ſich,
ob jemand zu hoͤren gewußt habe. Frank-
lins beſte Einkleidungen gingen aus ſolchen
verſtaͤndig-angehoͤrten lebendigen Thatſa-
chen hervor; von ihnen empfingen ſie ihre
gefaͤllige Geſtalt, ihre leichte Wendung. In
Zeiten, da man viel hoͤrte, viel erzaͤhlte
und wenig las, ſchrieb man am beſten; ſo
iſts noch in allen Materien, die aus leben-
diger Anſicht menſchlicher Dinge entſpringen
muͤſſen und dahin wirken. Schrift und
Rede iſt bei uns oft zu weit von einander
getrennt; daher ſind Buͤcher oft Leichname
oder Mumien, nicht lebendig-beſeelte Koͤr-
per. Griechen und Roͤmer, auch unter
Galliern und Britten die erleſenſte Schrift-
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[22/0029] fahrung bildet ſich der lebendigſte Theil unſrer praktiſchen Vernunft. Wer nicht zu hoͤren verſteht, verſtehet auch nicht zu be- merken; und aus dem Erzaͤhlen zeigt ſich, ob jemand zu hoͤren gewußt habe. Frank- lins beſte Einkleidungen gingen aus ſolchen verſtaͤndig-angehoͤrten lebendigen Thatſa- chen hervor; von ihnen empfingen ſie ihre gefaͤllige Geſtalt, ihre leichte Wendung. In Zeiten, da man viel hoͤrte, viel erzaͤhlte und wenig las, ſchrieb man am beſten; ſo iſts noch in allen Materien, die aus leben- diger Anſicht menſchlicher Dinge entſpringen muͤſſen und dahin wirken. Schrift und Rede iſt bei uns oft zu weit von einander getrennt; daher ſind Buͤcher oft Leichname oder Mumien, nicht lebendig-beſeelte Koͤr- per. Griechen und Roͤmer, auch unter Galliern und Britten die erleſenſte Schrift- ſteller waren ſprechende oder gar handelnde

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/29>, abgerufen am 21.11.2024.