warten wir, wenn wir von einem neuen Dichter hören, zuerst und vor allem ein Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut der allgemeinen Stimme, des Wunsches und Strebens der Nationen, den Hauch und Nachklang des mächtigen Zeitgeistes.
Der göttliche Mund der Muse ist in aller Welt gepriesen. Sie darf Dinge sagen, die die Prose nicht zu sagen wagt, und flößet sie unvermerkt in Herz und Seele. Gab sie der Fabel einst jenen lieblichen Ton, jene Süßigkeit, nach welcher wir auch nach Jahrtausenden noch, wie nach einer Er- quickung lechzen; wie? und sie sollte der auf uns dringenden Wahrheit wenigstens einen gefälligen Anzug, eine einladende Ge- stalt nicht zu geben vermögen?
Oft beunruhigen mich in meiner Ein- samkeit die Schatten jener alten mächtigen Dichter und Weisen. Jesaias, Pindar,
warten wir, wenn wir von einem neuen Dichter hoͤren, zuerſt und vor allem ein Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut der allgemeinen Stimme, des Wunſches und Strebens der Nationen, den Hauch und Nachklang des maͤchtigen Zeitgeiſtes.
Der goͤttliche Mund der Muſe iſt in aller Welt geprieſen. Sie darf Dinge ſagen, die die Proſe nicht zu ſagen wagt, und floͤßet ſie unvermerkt in Herz und Seele. Gab ſie der Fabel einſt jenen lieblichen Ton, jene Suͤßigkeit, nach welcher wir auch nach Jahrtauſenden noch, wie nach einer Er- quickung lechzen; wie? und ſie ſollte der auf uns dringenden Wahrheit wenigſtens einen gefaͤlligen Anzug, eine einladende Ge- ſtalt nicht zu geben vermoͤgen?
Oft beunruhigen mich in meiner Ein- ſamkeit die Schatten jener alten maͤchtigen Dichter und Weiſen. Jeſaias, Pindar,
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warten wir, wenn wir von einem neuen
Dichter hoͤren, zuerſt und vor allem ein
Wort des Herzens zum Herzen, einen Laut
der allgemeinen Stimme, des Wunſches
und Strebens der Nationen, den Hauch
und Nachklang des maͤchtigen Zeitgeiſtes.
Der goͤttliche Mund der Muſe iſt in aller
Welt geprieſen. Sie darf Dinge ſagen,
die die Proſe nicht zu ſagen wagt, und
floͤßet ſie unvermerkt in Herz und Seele.
Gab ſie der Fabel einſt jenen lieblichen Ton,
jene Suͤßigkeit, nach welcher wir auch nach
Jahrtauſenden noch, wie nach einer Er-
quickung lechzen; wie? und ſie ſollte der
auf uns dringenden Wahrheit wenigſtens
einen gefaͤlligen Anzug, eine einladende Ge-
ſtalt nicht zu geben vermoͤgen?
Oft beunruhigen mich in meiner Ein-
ſamkeit die Schatten jener alten maͤchtigen
Dichter und Weiſen. Jeſaias, Pindar,
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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/169>, abgerufen am 27.07.2024.
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