Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

hätte ich weinen mögen, da ich die letzten
Umstände seines Lebens las. Vor neun
Jahren, da er auf den Thron stieg, ward
er als ein Hülfsgott angebetet, und von
ihm das Größeste, Rühmlichste, fast das
Unmögliche erwartet; jetzt trägt man ihn
als ein Söhnopfer der Zeit zu Grabe.
Hat je ein Kaiser, hat je ein Sterblicher,
möchte ich sagen, mehr gewollt, sich mehr
bemühet, mehr angestrebet, rastloser ge-
wirket, als Er? Und welch ein Schicksal,
vorm Angesichte des Todes in den besten
Lebensjahren die Erreichung seiner Ab-
sichten nicht nur aufgeben, sondern die
ganze Mühe und Arbeit seines Lebens
förmlich widerrufen, feierlich aus-
streichen zu müßen, und so zu sterben!
Mir ist kein Beispiel in der Geschichte
bekannt, daß es einem Monarchen so
hart gegangen wäre.

H 4

haͤtte ich weinen moͤgen, da ich die letzten
Umſtaͤnde ſeines Lebens las. Vor neun
Jahren, da er auf den Thron ſtieg, ward
er als ein Huͤlfsgott angebetet, und von
ihm das Groͤßeſte, Ruͤhmlichſte, faſt das
Unmoͤgliche erwartet; jetzt traͤgt man ihn
als ein Soͤhnopfer der Zeit zu Grabe.
Hat je ein Kaiſer, hat je ein Sterblicher,
moͤchte ich ſagen, mehr gewollt, ſich mehr
bemuͤhet, mehr angeſtrebet, raſtloſer ge-
wirket, als Er? Und welch ein Schickſal,
vorm Angeſichte des Todes in den beſten
Lebensjahren die Erreichung ſeiner Ab-
ſichten nicht nur aufgeben, ſondern die
ganze Muͤhe und Arbeit ſeines Lebens
foͤrmlich widerrufen, feierlich aus-
ſtreichen zu muͤßen, und ſo zu ſterben!
Mir iſt kein Beiſpiel in der Geſchichte
bekannt, daß es einem Monarchen ſo
hart gegangen waͤre.

H 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0126" n="119"/>
ha&#x0364;tte ich weinen mo&#x0364;gen, da ich die letzten<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;eines Lebens las. Vor neun<lb/>
Jahren, da er auf den Thron &#x017F;tieg, ward<lb/>
er als ein Hu&#x0364;lfsgott angebetet, und von<lb/>
ihm das Gro&#x0364;ße&#x017F;te, Ru&#x0364;hmlich&#x017F;te, fa&#x017F;t das<lb/>
Unmo&#x0364;gliche erwartet; jetzt tra&#x0364;gt man ihn<lb/>
als ein So&#x0364;hnopfer der Zeit zu Grabe.<lb/>
Hat je ein Kai&#x017F;er, hat je ein Sterblicher,<lb/>
mo&#x0364;chte ich &#x017F;agen, mehr gewollt, &#x017F;ich mehr<lb/>
bemu&#x0364;het, mehr ange&#x017F;trebet, ra&#x017F;tlo&#x017F;er ge-<lb/>
wirket, als Er? Und welch ein Schick&#x017F;al,<lb/>
vorm Ange&#x017F;ichte des Todes in den be&#x017F;ten<lb/>
Lebensjahren die Erreichung &#x017F;einer Ab-<lb/>
&#x017F;ichten nicht nur aufgeben, &#x017F;ondern die<lb/>
ganze Mu&#x0364;he und Arbeit &#x017F;eines Lebens<lb/>
fo&#x0364;rmlich <hi rendition="#g">widerrufen</hi>, feierlich <hi rendition="#g">aus</hi>-<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;treichen</hi> zu mu&#x0364;ßen, und &#x017F;o zu &#x017F;terben!<lb/>
Mir i&#x017F;t kein Bei&#x017F;piel in der Ge&#x017F;chichte<lb/>
bekannt, daß es einem Monarchen &#x017F;o<lb/>
hart gegangen wa&#x0364;re.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">H 4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0126] haͤtte ich weinen moͤgen, da ich die letzten Umſtaͤnde ſeines Lebens las. Vor neun Jahren, da er auf den Thron ſtieg, ward er als ein Huͤlfsgott angebetet, und von ihm das Groͤßeſte, Ruͤhmlichſte, faſt das Unmoͤgliche erwartet; jetzt traͤgt man ihn als ein Soͤhnopfer der Zeit zu Grabe. Hat je ein Kaiſer, hat je ein Sterblicher, moͤchte ich ſagen, mehr gewollt, ſich mehr bemuͤhet, mehr angeſtrebet, raſtloſer ge- wirket, als Er? Und welch ein Schickſal, vorm Angeſichte des Todes in den beſten Lebensjahren die Erreichung ſeiner Ab- ſichten nicht nur aufgeben, ſondern die ganze Muͤhe und Arbeit ſeines Lebens foͤrmlich widerrufen, feierlich aus- ſtreichen zu muͤßen, und ſo zu ſterben! Mir iſt kein Beiſpiel in der Geſchichte bekannt, daß es einem Monarchen ſo hart gegangen waͤre. H 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/126
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga, 1793, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet01_1793/126>, abgerufen am 09.11.2024.