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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Zuerst erhellet, warum alle ihrem Lande zugebildete
sinnliche Völker dem Boden desselben so treu sind und sich
von ihm unabtrennlich fühlen. Die Beschaffenheit ihres
Körpers und ihrer Lebensweise, alle Freuden und Geschäfte,
an die sie von Kindheit auf gewöhnt wurden, der ganze Ge-
sichtskreis ihrer Seele ist klimatisch. Raubet man ihnen
ihr Land: so hat man ihnen alles geraubet.

"Von dem betrübten Schicksal der sechs Grönländer
erzählet Cranza), die man auf der ersten Reise nach Dän-
nemark brachte, hat man angemerkt, daß sie, ohnerachtet
aller freundlichen Behandlung und guten Versorgung mit
Stockfisch und Thran, dennoch oft mit betrübten Blicken
und unter jämmerlichem Seufzen gen Norden nach ihrem
Vaterlande gesehen und endlich in ihren Kajaken die Flucht
ergriffen haben. Durch einen starken Wind wurden sie an
das Ufer von Schonen geworfen und nach Koppenhagen zu-
rückgebracht, worauf zween von ihnen vor Betrübniß star-
ben. Von den übrigen sind ihrer zween nochmals entflohen
und ist nur der Eine wieder eingehohlt worden, welcher, so
oft er ein kleines Kind an der Mutter Halse gesehen, bitter-

lich
a) Gesch. von Grönland S. 355.


Zuerſt erhellet, warum alle ihrem Lande zugebildete
ſinnliche Voͤlker dem Boden deſſelben ſo treu ſind und ſich
von ihm unabtrennlich fuͤhlen. Die Beſchaffenheit ihres
Koͤrpers und ihrer Lebensweiſe, alle Freuden und Geſchaͤfte,
an die ſie von Kindheit auf gewoͤhnt wurden, der ganze Ge-
ſichtskreis ihrer Seele iſt klimatiſch. Raubet man ihnen
ihr Land: ſo hat man ihnen alles geraubet.

„Von dem betruͤbten Schickſal der ſechs Groͤnlaͤnder
erzaͤhlet Cranza), die man auf der erſten Reiſe nach Daͤn-
nemark brachte, hat man angemerkt, daß ſie, ohnerachtet
aller freundlichen Behandlung und guten Verſorgung mit
Stockfiſch und Thran, dennoch oft mit betruͤbten Blicken
und unter jaͤmmerlichem Seufzen gen Norden nach ihrem
Vaterlande geſehen und endlich in ihren Kajaken die Flucht
ergriffen haben. Durch einen ſtarken Wind wurden ſie an
das Ufer von Schonen geworfen und nach Koppenhagen zu-
ruͤckgebracht, worauf zween von ihnen vor Betruͤbniß ſtar-
ben. Von den uͤbrigen ſind ihrer zween nochmals entflohen
und iſt nur der Eine wieder eingehohlt worden, welcher, ſo
oft er ein kleines Kind an der Mutter Halſe geſehen, bitter-

lich
a) Geſch. von Groͤnland S. 355.
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[87/0099] Zuerſt erhellet, warum alle ihrem Lande zugebildete ſinnliche Voͤlker dem Boden deſſelben ſo treu ſind und ſich von ihm unabtrennlich fuͤhlen. Die Beſchaffenheit ihres Koͤrpers und ihrer Lebensweiſe, alle Freuden und Geſchaͤfte, an die ſie von Kindheit auf gewoͤhnt wurden, der ganze Ge- ſichtskreis ihrer Seele iſt klimatiſch. Raubet man ihnen ihr Land: ſo hat man ihnen alles geraubet. „Von dem betruͤbten Schickſal der ſechs Groͤnlaͤnder erzaͤhlet Cranz a), die man auf der erſten Reiſe nach Daͤn- nemark brachte, hat man angemerkt, daß ſie, ohnerachtet aller freundlichen Behandlung und guten Verſorgung mit Stockfiſch und Thran, dennoch oft mit betruͤbten Blicken und unter jaͤmmerlichem Seufzen gen Norden nach ihrem Vaterlande geſehen und endlich in ihren Kajaken die Flucht ergriffen haben. Durch einen ſtarken Wind wurden ſie an das Ufer von Schonen geworfen und nach Koppenhagen zu- ruͤckgebracht, worauf zween von ihnen vor Betruͤbniß ſtar- ben. Von den uͤbrigen ſind ihrer zween nochmals entflohen und iſt nur der Eine wieder eingehohlt worden, welcher, ſo oft er ein kleines Kind an der Mutter Halſe geſehen, bitter- lich a) Geſch. von Groͤnland S. 355.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/99>, abgerufen am 28.11.2024.