dre, zumal der Ackerbau, fordert schon mancherley Erfahrun- gen und Künste. Auch zeigt dieser Zug der Tradition, was die ganze Anlage unsrer Natur beweiset, daß der Mensch nicht zur Wildheit, sondern zum sanften Leben geschaffen sei und also, da der Schöpfer den Zweck seines Geschöpfs am besten kannte, den Menschen, wie alle andre Wesen gleichsam in seinem Element, im Gebiet der Lebensart, für die er gemacht ist, erschaffen habe. Alle Verwilderung der Menschenstäm- me ist Entartung, zu der sie die Noth, das Klima oder eine leidenschaftliche Gewohnheit zwang: wo dieser Zwang auf- höret, lebet der Mensch überall auf der Erde sanfter, wie die Geschichte der Nationen beweiset. Nur das Blut der Thiere hat den Menschen wild gemacht; die Jagd, der Krieg und leider auch manche Bedrängnisse der bürgerlichen Gesellschaft. Die älteste Tradition der frühesten Weltvölker weiß nichts von jenen Waldungeheuern, die als natürliche Unmenschen Jahr- tausende lang mordend umhergestreift und dadurch ihren ur- sprünglichen Beruf erfüllet hätten. Erst in entlegnen, rau- heren Gegenden, nach weiten Verirrungen der Menschen fan- gen diese wilden Sagen an, die der spätere Dichter gern aus- mahlte und denen zuletzt der compilirende Geschichtschreiber, dem Geschichtschreiber aber der abstrahirende Philosoph folgte. Abstractionen aber geben so wenig als das Gemälde der Dich- ter eine wahre Urgeschichte der Menschheit.
Wo
dre, zumal der Ackerbau, fordert ſchon mancherley Erfahrun- gen und Kuͤnſte. Auch zeigt dieſer Zug der Tradition, was die ganze Anlage unſrer Natur beweiſet, daß der Menſch nicht zur Wildheit, ſondern zum ſanften Leben geſchaffen ſei und alſo, da der Schoͤpfer den Zweck ſeines Geſchoͤpfs am beſten kannte, den Menſchen, wie alle andre Weſen gleichſam in ſeinem Element, im Gebiet der Lebensart, fuͤr die er gemacht iſt, erſchaffen habe. Alle Verwilderung der Menſchenſtaͤm- me iſt Entartung, zu der ſie die Noth, das Klima oder eine leidenſchaftliche Gewohnheit zwang: wo dieſer Zwang auf- hoͤret, lebet der Menſch uͤberall auf der Erde ſanfter, wie die Geſchichte der Nationen beweiſet. Nur das Blut der Thiere hat den Menſchen wild gemacht; die Jagd, der Krieg und leider auch manche Bedraͤngniſſe der buͤrgerlichen Geſellſchaft. Die aͤlteſte Tradition der fruͤheſten Weltvoͤlker weiß nichts von jenen Waldungeheuern, die als natuͤrliche Unmenſchen Jahr- tauſende lang mordend umhergeſtreift und dadurch ihren ur- ſpruͤnglichen Beruf erfuͤllet haͤtten. Erſt in entlegnen, rau- heren Gegenden, nach weiten Verirrungen der Menſchen fan- gen dieſe wilden Sagen an, die der ſpaͤtere Dichter gern aus- mahlte und denen zuletzt der compilirende Geſchichtſchreiber, dem Geſchichtſchreiber aber der abſtrahirende Philoſoph folgte. Abſtractionen aber geben ſo wenig als das Gemaͤlde der Dich- ter eine wahre Urgeſchichte der Menſchheit.
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dre, zumal der Ackerbau, fordert ſchon mancherley Erfahrun-
gen und Kuͤnſte. Auch zeigt dieſer Zug der Tradition, was
die ganze Anlage unſrer Natur beweiſet, daß der Menſch nicht
zur Wildheit, ſondern zum ſanften Leben geſchaffen ſei und
alſo, da der Schoͤpfer den Zweck ſeines Geſchoͤpfs am beſten
kannte, den Menſchen, wie alle andre Weſen gleichſam in
ſeinem Element, im Gebiet der Lebensart, fuͤr die er gemacht
iſt, erſchaffen habe. Alle Verwilderung der Menſchenſtaͤm-
me iſt Entartung, zu der ſie die Noth, das Klima oder eine
leidenſchaftliche Gewohnheit zwang: wo dieſer Zwang auf-
hoͤret, lebet der Menſch uͤberall auf der Erde ſanfter, wie die
Geſchichte der Nationen beweiſet. Nur das Blut der Thiere
hat den Menſchen wild gemacht; die Jagd, der Krieg und
leider auch manche Bedraͤngniſſe der buͤrgerlichen Geſellſchaft.
Die aͤlteſte Tradition der fruͤheſten Weltvoͤlker weiß nichts von
jenen Waldungeheuern, die als natuͤrliche Unmenſchen Jahr-
tauſende lang mordend umhergeſtreift und dadurch ihren ur-
ſpruͤnglichen Beruf erfuͤllet haͤtten. Erſt in entlegnen, rau-
heren Gegenden, nach weiten Verirrungen der Menſchen fan-
gen dieſe wilden Sagen an, die der ſpaͤtere Dichter gern aus-
mahlte und denen zuletzt der compilirende Geſchichtſchreiber,
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/344>, abgerufen am 22.12.2024.
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