Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

bene Traditionen dieser Art finden? Daß die ersten Samen
der Geschöpfe in einem Schlamm gelegen und die ersten mit
Verstand begabten Wesen eine Art Wundergestalten, Spiegel
des Himmels (Zophasemim) gewesen, die nachher durch den
Knall des Donners erweckt, aufwachten und die mancherlei
Geschöpfe aus ihrer Wundergestalt hervorbrachten, ist eben-
falls eine weit-herrschende, hier nur verkürzte Sage, die mit
andern Ausbildungen über die Medischen und Tibetanischen
Gebürge bis nach Jndien und Sina hinauf, und bis nach
Phrygien und Thracien hinabreichet: denn noch in der He-
siodischen und Orphischen Mythologie finden sich von ihr Re-
ste. Wenn man nun aber vom Winde Kolpias d. i. der
Stimme des Hauches Gottes und seinem Weibe der Nacht,
von ihren Söhnen, dem Erstgebohrnen und dem Aeon,
von ihren Enkeln, Geschlecht und Gattung, von ihren Ur-
enkeln, Licht, Feuer und Flamme, von ihren Ur-Urenkeln,
den Bergen Cassius, Libanus, Antilibanus u. f. lange
Genealogieen lieset und diesen allegorischen Namen die Erfin-
dungen des Menschengeschlechts zugeschrieben findet: so ge-
hört ein geduldiges Vorurtheil dazu, in dieser misverstandnen
Verwirrung alter Sagen, die der Zusammensetzer wahrschein-
lich als Namen vor sich fand und aus denen er Personen
machte, eine Philosophie der Welt und eine älteste Menschen-
geschichte zu finden.

Tiefer

bene Traditionen dieſer Art finden? Daß die erſten Samen
der Geſchoͤpfe in einem Schlamm gelegen und die erſten mit
Verſtand begabten Weſen eine Art Wundergeſtalten, Spiegel
des Himmels (Zophaſemim) geweſen, die nachher durch den
Knall des Donners erweckt, aufwachten und die mancherlei
Geſchoͤpfe aus ihrer Wundergeſtalt hervorbrachten, iſt eben-
falls eine weit-herrſchende, hier nur verkuͤrzte Sage, die mit
andern Ausbildungen uͤber die Mediſchen und Tibetaniſchen
Gebuͤrge bis nach Jndien und Sina hinauf, und bis nach
Phrygien und Thracien hinabreichet: denn noch in der He-
ſiodiſchen und Orphiſchen Mythologie finden ſich von ihr Re-
ſte. Wenn man nun aber vom Winde Kolpias d. i. der
Stimme des Hauches Gottes und ſeinem Weibe der Nacht,
von ihren Soͤhnen, dem Erſtgebohrnen und dem Aeon,
von ihren Enkeln, Geſchlecht und Gattung, von ihren Ur-
enkeln, Licht, Feuer und Flamme, von ihren Ur-Urenkeln,
den Bergen Caſſius, Libanus, Antilibanus u. f. lange
Genealogieen lieſet und dieſen allegoriſchen Namen die Erfin-
dungen des Menſchengeſchlechts zugeſchrieben findet: ſo ge-
hoͤrt ein geduldiges Vorurtheil dazu, in dieſer misverſtandnen
Verwirrung alter Sagen, die der Zuſammenſetzer wahrſchein-
lich als Namen vor ſich fand und aus denen er Perſonen
machte, eine Philoſophie der Welt und eine aͤlteſte Menſchen-
geſchichte zu finden.

Tiefer
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0324" n="312"/>
bene Traditionen die&#x017F;er Art finden? Daß die er&#x017F;ten Samen<lb/>
der Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe in einem Schlamm gelegen und die er&#x017F;ten mit<lb/>
Ver&#x017F;tand begabten We&#x017F;en eine Art Wunderge&#x017F;talten, Spiegel<lb/>
des Himmels (Zopha&#x017F;emim) gewe&#x017F;en, die nachher durch den<lb/>
Knall des Donners erweckt, aufwachten und die mancherlei<lb/>
Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe aus ihrer Wunderge&#x017F;talt hervorbrachten, i&#x017F;t eben-<lb/>
falls eine weit-herr&#x017F;chende, hier nur verku&#x0364;rzte Sage, die mit<lb/>
andern Ausbildungen u&#x0364;ber die Medi&#x017F;chen und Tibetani&#x017F;chen<lb/>
Gebu&#x0364;rge bis nach Jndien und Sina hinauf, und bis nach<lb/>
Phrygien und Thracien hinabreichet: denn noch in der He-<lb/>
&#x017F;iodi&#x017F;chen und Orphi&#x017F;chen Mythologie finden &#x017F;ich von ihr Re-<lb/>
&#x017F;te. Wenn man nun aber vom Winde Kolpias d. i. der<lb/>
Stimme des Hauches Gottes und &#x017F;einem Weibe der <hi rendition="#fr">Nacht</hi>,<lb/>
von ihren So&#x0364;hnen, dem <hi rendition="#fr">Er&#x017F;tgebohrnen</hi> und dem <hi rendition="#fr">Aeon</hi>,<lb/>
von ihren Enkeln, <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;chlecht</hi> und <hi rendition="#fr">Gattung</hi>, von ihren Ur-<lb/>
enkeln, <hi rendition="#fr">Licht, Feuer</hi> und <hi rendition="#fr">Flamme</hi>, von ihren Ur-Urenkeln,<lb/>
den <hi rendition="#fr">Bergen Ca&#x017F;&#x017F;ius, Libanus, Antilibanus</hi> u. f. lange<lb/>
Genealogieen lie&#x017F;et und die&#x017F;en allegori&#x017F;chen Namen die Erfin-<lb/>
dungen des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts zuge&#x017F;chrieben findet: &#x017F;o ge-<lb/>
ho&#x0364;rt ein geduldiges Vorurtheil dazu, in die&#x017F;er misver&#x017F;tandnen<lb/>
Verwirrung alter Sagen, die der Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzer wahr&#x017F;chein-<lb/>
lich als Namen vor &#x017F;ich fand und aus denen er Per&#x017F;onen<lb/>
machte, eine Philo&#x017F;ophie der Welt und eine a&#x0364;lte&#x017F;te Men&#x017F;chen-<lb/>
ge&#x017F;chichte zu finden.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Tiefer</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[312/0324] bene Traditionen dieſer Art finden? Daß die erſten Samen der Geſchoͤpfe in einem Schlamm gelegen und die erſten mit Verſtand begabten Weſen eine Art Wundergeſtalten, Spiegel des Himmels (Zophaſemim) geweſen, die nachher durch den Knall des Donners erweckt, aufwachten und die mancherlei Geſchoͤpfe aus ihrer Wundergeſtalt hervorbrachten, iſt eben- falls eine weit-herrſchende, hier nur verkuͤrzte Sage, die mit andern Ausbildungen uͤber die Mediſchen und Tibetaniſchen Gebuͤrge bis nach Jndien und Sina hinauf, und bis nach Phrygien und Thracien hinabreichet: denn noch in der He- ſiodiſchen und Orphiſchen Mythologie finden ſich von ihr Re- ſte. Wenn man nun aber vom Winde Kolpias d. i. der Stimme des Hauches Gottes und ſeinem Weibe der Nacht, von ihren Soͤhnen, dem Erſtgebohrnen und dem Aeon, von ihren Enkeln, Geſchlecht und Gattung, von ihren Ur- enkeln, Licht, Feuer und Flamme, von ihren Ur-Urenkeln, den Bergen Caſſius, Libanus, Antilibanus u. f. lange Genealogieen lieſet und dieſen allegoriſchen Namen die Erfin- dungen des Menſchengeſchlechts zugeſchrieben findet: ſo ge- hoͤrt ein geduldiges Vorurtheil dazu, in dieſer misverſtandnen Verwirrung alter Sagen, die der Zuſammenſetzer wahrſchein- lich als Namen vor ſich fand und aus denen er Perſonen machte, eine Philoſophie der Welt und eine aͤlteſte Menſchen- geſchichte zu finden. Tiefer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/324
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/324>, abgerufen am 22.12.2024.