über die Thiere erhob und auch in der rohesten Ausartung ihn verhinderte, nicht ganz zu ihnen herabzusinken? Man sagt: Vernunft und Sprache. So wie er aber zur Vernunft nicht ohne Sprache kommen konnte: so konnte er zu beiden nicht anders als durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin durch die Vorstellung des Unsichtbaren im Sichtbaren, durch die Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung gelangen. Eine Art religiösen Gefühls unsichtbarer wirkender Kräfte im gan- zen Chaos der Wesen, das ihn umgab, mußte also jeder ersten Bildung und Verknüpfung abgezogner Vernunftideen voraus- gehn und zum Grunde liegen. Dies ist das Gefühl der Wil- den von den Kräften der Natur, auch wenn sie keinen ausge- drückten Begrif von Gott haben; ein lebhaftes und wirksa- mes Gefühl, wie selbst ihre Abgöttereien und ihr Aberglaube zeiget. Bei allen Verstandesbegriffen blos sichtbarer Dinge handelt der Mensch dem Thier ähnlich; zur ersten Stuffe der höheren Vernunft mußte ihn die Vorstellung des Unsichtba- ren im Sichtbaren, einer Kraft in der Wirkung heben. Diese Vorstellung ist auch beinah das Einzige, was rohe Nationen von transscendenter Vernunft besitzen und andere Völker nur in mehrere Worte entwickelt haben. Mit der Fortdauer der Seele nach dem Tode wars ein Gleiches. Wie der Mensch auch zu ihrem Begrif gekommen seyn möge; so ist dieser Be- grif, als allgemeiner Volksglaube auf der Erde, das Einzige,
das
uͤber die Thiere erhob und auch in der roheſten Ausartung ihn verhinderte, nicht ganz zu ihnen herabzuſinken? Man ſagt: Vernunft und Sprache. So wie er aber zur Vernunft nicht ohne Sprache kommen konnte: ſo konnte er zu beiden nicht anders als durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin durch die Vorſtellung des Unſichtbaren im Sichtbaren, durch die Verknuͤpfung der Urſache mit der Wirkung gelangen. Eine Art religioͤſen Gefuͤhls unſichtbarer wirkender Kraͤfte im gan- zen Chaos der Weſen, das ihn umgab, mußte alſo jeder erſten Bildung und Verknuͤpfung abgezogner Vernunftideen voraus- gehn und zum Grunde liegen. Dies iſt das Gefuͤhl der Wil- den von den Kraͤften der Natur, auch wenn ſie keinen ausge- druͤckten Begrif von Gott haben; ein lebhaftes und wirkſa- mes Gefuͤhl, wie ſelbſt ihre Abgoͤttereien und ihr Aberglaube zeiget. Bei allen Verſtandesbegriffen blos ſichtbarer Dinge handelt der Menſch dem Thier aͤhnlich; zur erſten Stuffe der hoͤheren Vernunft mußte ihn die Vorſtellung des Unſichtba- ren im Sichtbaren, einer Kraft in der Wirkung heben. Dieſe Vorſtellung iſt auch beinah das Einzige, was rohe Nationen von transſcendenter Vernunft beſitzen und andere Voͤlker nur in mehrere Worte entwickelt haben. Mit der Fortdauer der Seele nach dem Tode wars ein Gleiches. Wie der Menſch auch zu ihrem Begrif gekommen ſeyn moͤge; ſo iſt dieſer Be- grif, als allgemeiner Volksglaube auf der Erde, das Einzige,
das
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0283"n="271"/>
uͤber die Thiere erhob und auch in der roheſten Ausartung ihn<lb/>
verhinderte, nicht ganz zu ihnen herabzuſinken? Man ſagt:<lb/>
Vernunft und Sprache. So wie er aber zur Vernunft nicht<lb/>
ohne Sprache kommen konnte: ſo konnte er zu beiden nicht<lb/>
anders als durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin<lb/>
durch die Vorſtellung des Unſichtbaren im Sichtbaren, durch<lb/>
die Verknuͤpfung der Urſache mit der Wirkung gelangen. Eine<lb/>
Art religioͤſen Gefuͤhls unſichtbarer wirkender Kraͤfte im gan-<lb/>
zen Chaos der Weſen, das ihn umgab, mußte alſo jeder erſten<lb/>
Bildung und Verknuͤpfung abgezogner Vernunftideen voraus-<lb/>
gehn und zum Grunde liegen. Dies iſt das Gefuͤhl der Wil-<lb/>
den von den Kraͤften der Natur, auch wenn ſie keinen ausge-<lb/>
druͤckten Begrif von Gott haben; ein lebhaftes und wirkſa-<lb/>
mes Gefuͤhl, wie ſelbſt ihre Abgoͤttereien und ihr Aberglaube<lb/>
zeiget. Bei allen Verſtandesbegriffen blos ſichtbarer Dinge<lb/>
handelt der Menſch dem Thier aͤhnlich; zur erſten Stuffe der<lb/>
hoͤheren Vernunft mußte ihn die Vorſtellung des Unſichtba-<lb/>
ren im Sichtbaren, einer Kraft in der Wirkung heben. Dieſe<lb/>
Vorſtellung iſt auch beinah das Einzige, was rohe Nationen<lb/>
von transſcendenter Vernunft beſitzen und andere Voͤlker nur<lb/>
in mehrere Worte entwickelt haben. Mit der Fortdauer der<lb/>
Seele nach dem Tode wars ein Gleiches. Wie der Menſch<lb/>
auch zu ihrem Begrif gekommen ſeyn moͤge; ſo iſt dieſer Be-<lb/>
grif, als allgemeiner Volksglaube auf der Erde, das Einzige,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">das</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[271/0283]
uͤber die Thiere erhob und auch in der roheſten Ausartung ihn
verhinderte, nicht ganz zu ihnen herabzuſinken? Man ſagt:
Vernunft und Sprache. So wie er aber zur Vernunft nicht
ohne Sprache kommen konnte: ſo konnte er zu beiden nicht
anders als durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin
durch die Vorſtellung des Unſichtbaren im Sichtbaren, durch
die Verknuͤpfung der Urſache mit der Wirkung gelangen. Eine
Art religioͤſen Gefuͤhls unſichtbarer wirkender Kraͤfte im gan-
zen Chaos der Weſen, das ihn umgab, mußte alſo jeder erſten
Bildung und Verknuͤpfung abgezogner Vernunftideen voraus-
gehn und zum Grunde liegen. Dies iſt das Gefuͤhl der Wil-
den von den Kraͤften der Natur, auch wenn ſie keinen ausge-
druͤckten Begrif von Gott haben; ein lebhaftes und wirkſa-
mes Gefuͤhl, wie ſelbſt ihre Abgoͤttereien und ihr Aberglaube
zeiget. Bei allen Verſtandesbegriffen blos ſichtbarer Dinge
handelt der Menſch dem Thier aͤhnlich; zur erſten Stuffe der
hoͤheren Vernunft mußte ihn die Vorſtellung des Unſichtba-
ren im Sichtbaren, einer Kraft in der Wirkung heben. Dieſe
Vorſtellung iſt auch beinah das Einzige, was rohe Nationen
von transſcendenter Vernunft beſitzen und andere Voͤlker nur
in mehrere Worte entwickelt haben. Mit der Fortdauer der
Seele nach dem Tode wars ein Gleiches. Wie der Menſch
auch zu ihrem Begrif gekommen ſeyn moͤge; ſo iſt dieſer Be-
grif, als allgemeiner Volksglaube auf der Erde, das Einzige,
das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/283>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.